Als Ich Mich vor einiger Zeit mit einem Bekannten, der Christlicher Wissenschafter ist, über Gebet und geistigen Fortschritt unterhielt, stellte er mir die Frage: „Haben Sie sich selbst heute schon geliebt?“ Im ersten Augenblick war ich schockiert. Ich dachte: „Was soll denn diese Frage? Wenn ich es für wichtig halte, mich selbst zu lieben, kann das nicht zu Hochmut und Ichbezogenheit verleiten? Führt mich das nicht von der Geistigkeit ab? Wie kann er nur so eine Frage stellen?“
Wie ich es verstand, war doch schließlich einer der wichtigsten Punkte des Christentums, daß wir uns weniger auf persönliche, selbstische Interessen konzentrieren und lernen, andere mehr zu lieben. Ich dachte an das biblische Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ und daran, wie stark Christus Jesus dies in seinen Lehren betonte.
Je mehr ich aber über diese Frage nachdachte, desto klarer wurde mir, daß diese Frage in einem bestimmten Zusammenhang sehr tiefgründig war — daß sie von der Materialität hinweg zu tiefer Geistigkeit führen kann.
Die Frage meines Bekannten führt nur zu Hochmut, Stolz und Eingebildetsein, wenn wir den Standpunkt vertreten, wir seien materielle Geschöpfe, die von Gott und Seiner Schöpfung unabhängige Interessen, Wünsche und Ziele verfolgen. Wenn wir uns und andere so sehen, dann ist Eigenliebe tatsächlich die Antithese der Christlichen Wissenschaft.* Lernen wir aber, die geistige Wirklichkeit zu lieben und zu erfassen, daß diese Wirklichkeit unser wahres Selbst darstellt, dann erkennen wir dadurch demütig an, daß wir unser wahres Selbst lieben, unsere geistige Identität, die Gott erschaffen hat und aufrechterhält. Es ist interessant, daß das bereits zitierte biblische Gebot verlangt, daß wir andere wie uns selbst lieben, nicht anstatt uns selbst. Im Grunde geht es dann um die Frage: Was glauben wir tatsächlich, was der Mensch ist?
Als Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ schreibt Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „Der Mensch ist Idee, das Bild der Liebe; er ist kein körperlicher Organismus.“
Ich wußte nun also, wie die mir gestellte Frage zu verstehen war. Ich sollte mich als das von Gott erschaffene, geliebte Kind erkennen. Demütig und zufrieden sollte ich mich an Gott wenden; ich sollte dankbar dafür sein, daß Er mich und alle Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, um Gesundheit und Vollkommenheit auszudrücken. Sich selbst als Gottes Kind zu lieben heißt letzten Endes zu lernen, sich so zu sehen, wie man wirklich ist.
Durch die Christliche Wissenschaft habe ich gelernt, jeden Morgen damit zu beginnen, Gott dafür zu danken, daß ich Zeugnis ablegen darf von Seiner Gegenwart, daß Er mich leitet und führt, daß Er meine Lebensenergie, Freude, Kraft und Stärke ist.
Nach dem Gespräch mit meinem Bekannten wurde mir klar — und ich halte mir das heute noch vor Augen —, daß ich mich als Ausdruck Gottes lieben kann und muß. Aber nicht nur mich selbst! Die Forderung ist viel, viel größer! Die Botschaft des Christentums, die in der Bebel so klar wiedergegeben wurde, besagt nicht, daß Gott nur einige Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat und daß Sie oder ich vielleicht einer dieser Glücklichen sind. Nein! Alle Menschen sind Gottes geistige Kinder. Hautfarbe, Nationalität, die Sprache, die jemand spricht, das alles sind Äußerlichkeiten, die uns daran hindern, das rein geistige Wesen des Menschen klar zu erkennen.
Die Forderung des Geistes ist, daß wir in jedem die „Idee, das Bild der Liebe“ sehen. Und da beginnt manchmal die Problematik! Wie schwer scheint es doch zu sein, in jedem das Bild und Gleichnis Gottes zu erkennen! Wir müssen das falsche Bild vom Menschen als materiell, das sich uns so oft zu bieten scheint, verneinen und uns der geistigen, von Gott verliehenen Individualität des Menschen zuwenden, die der Christus ans Licht bringt.
*Christian Science (kr’istjen s’aiens)
Wir können diese Allgegenwart Gottes täglich, ja zu jeder Stunde, erkennen, weil die Fähigkeit, das zu tun, dem geistigen Kind Gottes innewohnt. Bemühen wir uns doch, Sein Allwirken bei jeder rechten Tätigkeit zu fühlen; lassen Sie uns dafür dankbar sein, daß alle unsere Wege und Angelegenheiten von Ihm geleitet werden! Dieses Einssein von Gott und Mensch ist Grund zu tiefer Freude — Freude, die jeden Tag zu einem schönen Tag macht, die jede schwierige Aufgabe oder Tätigkeit erleichtert.
Welche Inspiration erhalten wir doch, wenn wir den liebenswerten, von Gott erschaffenen Menschen zu erforschen beginnen! Wie beglükkend ist doch die Erkenntnis, daß unser wahres Selbst in Gott ruht. Welche Ruhe und Sicherheit gibt es uns, wenn wir uns und unseren Nächsten frei von Krankheit, Leiden, Not, Armut, Verzweiflung, Arbeitslosigkeit und Sinnlichkeit sehen und erleben.
Vor kurzem mußte ich meine Überzeugung beweisen, daß der Mensch das geliebte Kind Gottes ist. Eine Verwandte kam wegen der Regelung von Erbschaftsangelegenheiten in meine Heimatstadt. Andere Verwandte reagierten sofort und sagten: „Komme nicht mit ihr zu uns; wir wollen nichts mit ihr zu tun haben. Denke daran, sie hat ... “ Und dann folgte eine Aufzählung schlechter Charaktereigenschaften. „Vergiß nicht, welche Enttäuschungen sie uns bereitet hat“ und so weiter. Andere empfahlen mir, wegzufahren und einfach nicht da zu sein.
Nach diesen „Ratschlägen“ wandte ich mich an Gott und bat Ihn, mir die Augen zu öffnen und mich zu leiten. Hatte ich nicht immer im Gebet des Herrn gebetet: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“? Zuerst mußte ich vergeben. Dankbar konnte ich erkennen, daß in Gottes Weltall der Mensch vollkommen ist und niemandem Leid zufügen oder Enttäuschung bereiten kann — er hat es nie getan, tut es jetzt nicht und wird es niemals tun. Als nächstes mußte ich lernen, die wirkliche und einzige Identität meiner Verwandten, die ihr von Gott verliehene Identität als Sein Bild und Gleichnis, zu sehen und zu lieben. Der Irrtum — das heißt die Auffassung, daß meine Verwandte eine unangenehme menschliche Persönlichkeit habe und es zu unangenehmen Zusammenstößen mit ihr gekommen sei — schien sehr hartnäckig zu sein. Aber ich betete beharrlich, um den richtigen Begriff vom Menschen zu gewinnen.
Als meine Verwandte kam, konnte ich sie freudig empfangen in dem Wissen, daß die göttliche Liebe mich führen würde, zur rechten Zeit das Rechte zu tun und zu sagen. Ich hatte gelernt, auf Gottes Stimme zu lauschen, zu gehorchen, zu vergeben, zu lieben und das Bild vom Menschen als einem selbstischen Sterblichen auszulöschen. Mir wurde folgendes klar: Wenn ich lernte, die geistige Individualität zu lieben, die ich in mir entdeckte, dann konnte ich auch die geistige Identität meiner Verwandten lieben. Und zunächst konnte ich darauf vertrauen, daß diese geistige Identität tatsächlich gegenwärtig war, um geliebt zu werden!
Wie dankbar war ich doch Gott, daß Er mir gezeigt hatte, mich nicht dem Urteil anderer anzuschließen. Können Sie sich vorstellen, wie dankbar ich war, daß die Zeit mit meiner Verwandten friedvoll und harmonisch war? Zum Abschied dankte mir meine Verwandte und gestand, daß sie sich auf Disharmonie und Streit vorbereitet hatte, aber nun hocherfreut war über die Harmonie und die Lösung unserer Probleme.
Der sechste Glaubenssatz der Christlichen Wissenschaft lautet gemäß Wissenschaft und Gesundheit: „Und wir geloben feierlich zu wachen, und zu beten, daß das Gemüt in uns sei, das auch in Christus Jesus war; anderen zu tun, was wir wollen, daß sie uns tun sollen, und barmherzig, gerecht und rein zu sein.“ Diese Verpflichtung fordert von uns, täglich, ja stündlich, immer über unsere Gedanken zu wachen, alle Gedanken im Licht der Wahrheit zu prüfen, alles Gott Unähnliche in uns, unserem Nächsten und in der Welt zu verneinen. Beten heißt unter anderem, Gott zu danken für die Fähigkeit, zu lauschen, die geistige Wahrheit zu erkennen und ihr entsprechend zu handeln. Und wenn das Gemüt in uns ist, das auch in Christus Jesus war, dann strömt das Licht der Wahrheit in unser Denken, und voller Erbarmen helfen wir unseren Mitmenschen. Gerecht zu sein bedeutet unter anderem, unseren Nächsten als das Ebenbild der Liebe zu sehen.
So können wir nicht nur uns, sondern auch andere fragen: „Haben Sie sich selbst — Ihr wahres Selbst — heute schon geliebt?“
