Kürzlich Hatte Ich Gelegenheit, mit Magen Broshi zu sprechen, dem Kustos der Schriftrollen vom Toten Meer im Israelischen Museum zu Jerusalem. Er befand sich auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten, in deren Verlauf er an der Harvarduniversität, dem Vassar College und einer Reihe anderer Institutionen Vorlesungen hielt. Unsere Unterhaltung reichte von den Schriftrollen vom Toten Meer über die gemeinsamen Wurzeln des Christentums und Judentums bis hin zu brüderlicher Liebe. Ich dachte, unsere Unterhaltung könnte für die Leser des Herolds von Interesse sein.
: Wir haben alle über die Schriftrollen vom Toten Meer gelesen — aber erklären Sie doch einmal in einfachen Worten, was sie sind.
: Die Schriftrollen bestehen aus etwa achthundert Manuskripten, die ungefähr zweitausend Jahre alt sind. Sie wurden über einen Zeitraum von etwa zweihundert Jahren geschrieben — so um Jesu Zeit herum. Das ist natürlich ein sehr wichtiger Zeitabschnitt in der jüdischen Geschichte: die Zeit des Wirkens von Jesus, Johannes und Paulus. Auch für die westliche Zivilisation ist es ein bedeutsames Kapitel.
Die Rollen sind Teil einer sehr umfangreichen Bibliothek, die im wesentlichen in zwei Gruppen aufgeteilt ist. Eine Gruppe ist biblisch (das Alte Testament) und umfaßt etwa zweihundert Manuskripte. Die zweite Gruppe setzt sich aus Büchern der Essener zusammen, einer der drei wichtigsten jüdischen Sekten der damaligen Zeit.
Und warum ist das so interessant? Erstens ist es uns nicht alle Tage vergönnt, daß eine Bibliothek aus der Antike unseren Weg kreuzt! Zweitens kommen die Rollen aus einem sehr wichtigen Zeitabschnitt. Drittens ist es eine ziemlich große Bibliothek, die, wenn wir die biblischen Bücher einmal außer acht lassen, etwa hunderttausend Wörter umfaßt. Auch hatte die Bewegung der Essener großen Einfluß auf das Christentum.
Trammell: Heißt das, daß Jesus tatsächlich diese Schriften gelesen haben könnte?
Broshi: Er kannte die Lehre der Essener. Diese Leute hatten gewisse Grundsätze, die auch Jesus teilte. Ihr Leitmotiv war: „Selig sind die Armen.“ Sie glaubten auch, daß Reichtum verderbliche Auswirkungen hat.
Trammell: Wie groß sind diese Rollen? Wie sehen sie aus?
Broshi: Die größte, die Tempelrolle, ist über acht Meter lang und etwa dreißig Zentimeter hoch. Unter den achthundert Rollen sind nur ungefähr ein Dutzend gut erhalten. Der Rest besteht aus einer Unzahl von Fragmenten. Eine Rolle zum Beispiel besteht aus 248 Stücken. Manchmal existiert von einer ganzen Rolle nur noch ein Stück, das nicht größer ist als eine Briefmarke.
Trammell: Sind Sie der Ansicht, daß sich um diese Schriftrollen vom Toten Meer eine Art Zauber, ein geheimnisvoller Nimbus entwickelt hat, der sie zu einer Bedeutsamkeit erhebt, die ihnen nicht zusteht? Oder glauben Sie, daß sie wirklich ein sehr wichtiger Fund sind?
Broshi: Es ist einer der größten und bedeutungsvollsten Funde, die die Archäologie jemals gemacht hat. Es ist die wichtigste Entdeckung von Manuskripten im 20. Jahrhundert. Nichts anderes reicht auch nur entfernt an die Schriftrollen vom Toten Meer heran.
Trammell: Was bedeutet die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer für den Mann auf der Straße?
Broshi: Das erste ist, daß wir doch alle mehr über unsere Geschichte wissen möchten. Wir wollen mehr über unsere Wurzeln lernen. Aus den Schriftrollen erfahren wir zum Beispiel, wie tief das Christentum im Judentum verwurzelt ist.
Trammell: Und warum wurde über die Schriftrollen so lange geschwiegen — über vierzig Jahre?
Broshi: Das ist eigentlich nicht ganz richtig, denn der Großteil der Rollen — etwa 80 bis 85 Prozent — sind veröffentlicht worden. Übriggeblieben sind die schwierigsten, die am meisten zerstörten Rollen.
Trammell: Aber jetzt sind alle veröffentlicht.
Broshi: Sie sind jetzt herausgekommen und jedem zugänglich. Sie müssen bedenken, daß es etwas sehr Bewegendes ist, ein greifbares Überbleibsel aus jener Zeit vor sich liegen zu haben.
Trammell: Vielleicht ist die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer auch deshalb so wichtig, weil sie unsere gemeinsamen Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition bestätigen könnten.
Broshi: Nun, es gibt krasse — sehr wichtige — Unterschiede zwischen den beiden Traditionen. Aber eines ist sicher: Wir haben gemeinsame Wurzeln, und wir sollten uns dessen sehr stark bewußt sein.
Trammell: Und vielleicht darauf aufbauen ...
Broshi: Wir sollten unbedingt darauf aufbauen. Ich finde, das sollte zu brüderlicher Liebe führen. Wir haben gemeinsame Wurzeln.
Trammell: Sie haben vorhin die Essener erwähnt. Was waren das für Menschen?
Broshi: Sie waren sehr, sehr strenge Extremisten, die in die Wüste gingen und in Qumran lebten — dort, wo die Schriftrollen vom Toten Meer schließlich von einem arabischen Hirten in einer Höhle gefunden wurden.
Trammell: Haben sie geheilt?
Broshi: Das wissen wir nicht. Wir würden es sehr gern erfahren. Es gibt eine ganze Reihe von Gelehrten, die der Meinung sind, das Wort Essener bedeute „Heiler“.
Trammell: Welchen Teil der Originalschriften aus der Essener-Bibliothek von Qumran haben Sie?
Broshi: Das wissen wir auch nicht. Schließlich wurden die Rollen nicht in Tresoren aufbewahrt. Sie lagen in offenen Höhlen, mit Tieren, mit Ungeziefer und was sonst noch allem.
Trammell: Liegt Ihnen das gesamte Alte Testament vor?
Broshi: Wir haben alles — außer dem Buch Ester.
Trammell: Und warum nicht Ester?
Broshi: Vielleicht haben es die Ratten gefressen. Es könnte aber auch sehr gut sein, daß die Essener das Buch nicht mochten. Einige der Bücher gehören zu den biblischen Apokryphen. Es gibt keinerlei Geschichtsbücher. Und keine medizinischen Werke.
Trammell: Sie haben einmal gesagt, es bedeutet Ihnen sehr viel, daß die Schriftrollen vom Toten Meer genau zu dem Zeitpunkt gefunden wurden, als die Vereinten Nationen die Gründung des Staates Israel beschlossen.
Broshi: Es war am selben Tag, am 29. November 1947. An dem Tag wurden die ersten Zeilen der Rollen vom Toten Meer gelesen. Es ist wie ein Händedruck von fernen Brüdern über zweitausend Jahre hinweg.
Trammell: Bestätigen die Rollen die Bibel irgendwie?
Broshi: Etwas ist äußerst bemerkenswert: Die ältesten bis dahin bekannten hebräischen Bibelmanuskripte waren gerade tausend Jahre alt. Nun aber haben wir Manuskripte, die zweitausend, manche sogar 2300 Jahre alt sind! Und im großen und ganzen sind sie genau wie die Bibeln, die wir heute lesen. Der Text wurde während der ganzen Zeit fast nicht verändert.
Trammell: Was ist schließlich mit den Essenern geschehen?
Broshi: Sie wurden von den Römern umgebracht. Wahrscheinlich haben sie den Aufstand gegen die Römer als den Messianischen Krieg betrachtet — ihren letzten Krieg — und haben daher so gekämpft, daß sie kaum eine Überlebenschance hatten.
Trammell: Um die Schriftrollen vom Toten Meer hat es viele Kontroversen gegeben. Glauben Sie, daß wir das jetzt hinter uns haben?
Broshi: Ich fürchte, die Politik wird uns wohl immer begleiten. Aber eines können wir tun: Wir können es den Schriftrollen überlassen, die Weltlage zu verbessern. Und die Tatsache, daß wir uns unserer gemeinsamen Wurzeln bewußter werden, ist schon ein Beitrag dazu. Bei so vielen Gemeinsamkeiten sollte es mehr Toleranz, mehr brüderliche Liebe geben.
Die Heilige Schrift hat die Macht, „die Weltlage zu verbessern“. Das Wort Gottes kann uns allen über Jahrhunderte hinweg ein tieferes Gefühl von Einheit vermitteln und in uns den Wunsch zu heilen wecken. Mrs. Eddy schrieb in Wissenschaft und Gesundheit: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle:, Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 340. In wahrer Brüderschaft liegt eine ungeheure geistige Macht, die es wert ist, auf die bestmögliche Weise gefördert zu werden.