EIN WORT ÜBER DAS MITTELALTER
Viele Leute haben eine sehr romantische Vorstellung vom Mittelalter. Sie denken dabei an König Artus und seine Tafelrunde, an Burgen, Ritter und edle Damen, an wandernde Spielleute und Kreuzzüge ins Heilige Land. Aber dies alles gehört der Spätzeit des Mittelalters an. In Wirklichkeit war der Großteil dieses Zeitraums — etwa 800 Jahre — erfüllt von geistiger und kultureller Düsternis.
Im 4. und 5. Jahrhundert drangen germanische Stämme aus Nordeuropa in den Westteil des Römischen Reiches ein, und das war der Auftakt zum unaufhaltsamen Zerfall des großen Imperiums, an dessen Stelle schließlich eine Vielzahl feudalistischer Königreiche traten. Die glänzende Kultur des Römischen Reichs verkam zu einer 800 Jahre währenden dumpfen Unwissenheit. Kein Wunder, daß die Welt während dieser Epoche fast die biblische Wahrheit aus den Augen verlor.
DER VERLUST DES URCHRISTENTUMS — UND DER BIBEL
Gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. war auch das Ende der klassischen Kulturwelt gekommen. Das Römische Reich zerfiel — geschwächt durch Korruption, den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems und Furcht vor den ständig drohenden Barbareneinfällen. Die Kaiser regierten despotischer denn je und zerrütteten das Reich durch rücksichtslose Aushebungen zum Heeresdienst und ungeheure Steuern. Und sie verfolgten immer wieder die Christen, wie sie das schon seit deren erstem Auftreten getan hatten.
Doch im 4. Jahrhundert vollzog sich unter Kaiser Konstantin eine dramatische Wende in den Beziehungen zwischen Christen und Staat. In der Nacht vor der Entscheidungsschlacht gegen seinen Rivalen Maxentius hatte Konstantin (der bisher den Sonnengott verehrt hatte) eine Vision, in der ihm befohlen wurde, die Kreuzesfahne an seinen Standarten und das Christusmonogramm auf den Schilden seiner Soldaten anbringen zu lassen. Als er am Tag darauf die Schlacht gewonnen hatte, änderte sich sein Verhältnis zum Christentum grundlegend. Er begünstigte fortan die Christen, gab ihren beschlagnahmten Besitz zurück und gewährte ihnen freie Religionsausübung. Kurz vor seinem Tode ließ er sich taufen.
Mit der Unterstützung des Kaisers gewann die Kirche Ansehen und Stärke. Aber auf längere Sicht erwuchsen dem Christentum daraus auch schwerwiegende Probleme, besonders nachdem Konstantin seine Residenz von Rom nach Byzanz verlegt hatte, das er sich selbst zu Ehren in Konstantinopel umbenannte. Durch diesen Umzug entstand in Rom ein Machtvakuum, das von einer Reihe Päpste durch den Aufbau einer Art „päpstlichen Monarchie“ gefüllt wurde.
Während des ganzen Mittelalters war das Papsttum die oberste Autorität, der die gesamte westliche Christenheit unterworfen war. Die Päpste beanspruchten nicht nur die geistliche Oberhoheit über die ehemals römische Welt, sondern auch die weltliche. Die Kirche des Mittelalters war praktisch ein Kirchenstaat, der absolute Macht besaß, Steuern zu erheben, Heere zu unterhalten, Gesetze zu erlassen und alle Untertanen, die gegen diese Gesetze verstießen, zu bestrafen.
Mit dieser Säkularisation der christlichen Kirche verkam auch das Bibelstudium fast völlig. Mehr und mehr wurde in den Herzen der Christen die Bibel von den doktrinären Lehren der Kirche verdrängt. Je mehr die Menschen die Beziehung zur Bibel verloren, desto mehr gaben sie auch die überlieferten christlichen Bräuche auf — etwa das öffentliche Lesen aus der Bibel im Gottesdienst, das Predigen des Evangeliums und das praktische christliche Heilen. Und gleichzeitig wurde der echte Text der Bibel verfälscht und verdorben.
DIE VERFÄLSCHUNG DER LATEINISCHEN VULGATA
Die Bibelübersetzung des Hieronymus — die zu Beginn des 5. Jahrhunderts vollendet wurde — war weit besser als das Durcheinander der Vetus Latina, die ihr vorausgegangen war. Aber die römische Welt wehrte sich jahrhundertelang gegen die Vulgata und klammerte sich an den alten lateinischen Text, den man irgendwie für reiner und heiliger hielt als die Hieronymus-Übersetzung. Aus diesem Grund wurde die Vulgata ständig verändert — und dabei gründlich entstellt —, als sie schließlich von Italien und Südfrankreich aus ihren Weg auch nach Deutschland, Irland, England und Spanien fand. Manche Schreiber fügten beim Kopieren der Vulgata, wo immer sie es für angebracht hielten, den vertrauteren Wortlaut der Vetus Latina in den Hieronymus-Text ein. Andere benutzten weiterhin diesen altlateinischen Text als Vorlage und fügten lediglich einige Passagen der Hieronymus-Übersetzung ein.
Diese unhaltbaren Zustände veranlaßten im 6. Jahrhundert den römischen Schriftsteller und Mönch Cassiodorus, eine Standardisierung der Vulgata zu versuchen. Er gab eine neue Bibel heraus, die sich so eng wie möglich an den ursprünglichen Wortlaut der Hieronymus-Übersetzung und die alte hebräische Heilige Schrift anlehnte.
Aber leider wurde diese gereinigte Version der Vulgata nie populär. Statt dessen erlangte eine andere Textversion des Cassiodorus — die weit schlechter war — weite Verbreitung. Der britische Abt Ceolfrid nahm diesen Text im frühen 8. Jahrhundert mit nach England. Hier wurde er mit allen Fehlern und Verfälschungen abgeschrieben, und es entstand der sogenannte Codex Amiatinus. In dieser Form fand der Text des Cassiodorus den Weg in alle Klöster Europas.
Auch in Spanien wurde der Vulgata übel mitgespielt. Hieronymus selbst hatte seine Übersetzung einigen spanischen Schreibern gegeben, die im Jahre 398 nach Jerusalem gekommen waren, um seine Bibel zu kopieren. Die Texte, die die Spanier abschrieben, enthielten jedoch noch nicht die letzten und gründlichsten Revisionen des Hieronymus. Vielleicht hat Hieronymus diese Revisionen später nach Spanien geschickt, aber sie wurden dort nie in den Text aufgenommen. Und so wurde die spanische Vulgata in den folgenden Jahrhunderten der Übersetzung des Hieronymus immer unähnlicher. Schließlich waren in Spanien so viele fehlerhafte Versionen im Umlauf, daß es schwer war, die verläßlichen zu ermitteln.
KARL DER GROSSE VERSUCHT EINE REFORM DER VULGATA
Während der Regierungszeit des Frankenkönigs Karls des Großen hatte fast jedes größere Kloster in Europa einen „hauseigenen“ irischen Mönch, der die Bibelstudien leitete. (Die irischen Klöster waren auf das Studium des Griechischen und Hebräischen spezialisiert.) Karl unterstützte dies, wo er konnte, denn er war überzeugt, daß ein verbesserter Bibeltext Ordnung und Kultur in seinem großen Reich fördern würde.
Zwei der größten Gelehrten seiner Zeit stellten, ermutigt und gefördert vom König (und späteren Kaiser), ihr Wissen und ihre Arbeitskraft in den Dienst einer Verbesserung der Vulgata. Der erste war Theodulf, Bischof von Orleans und einer der glänzendsten Theologen des Karolingerreiches. Unter Schirmherrschaft Karls des Großen brachte Theodulf verschiedene wundervoll bebilderte Manuskripte der Vulgata heraus.
Der andere Bibelgelehrte, der an der Revision der Vulgata arbeitete, war Alkuin, der langjährige kirchliche Berater Karls. Alkuin stammte aus York in England. Er lernte Karl im Jahre 781 kennen und wurde bald der geistige Führer und Ratgeber des Kaisers und Abt von Tours in Frankreich. Karl der Große beauftragte Alkuin damit, sowohl das Alte als auch das Neue Testament zu revidieren.
Die Mönche, die unter seiner Aufsicht an dem Werk arbeiteten, wies Alkuin an, Fehler in Grammatik und Interpunktion zu korrigieren und den ursprünglichen Wortlaut der Bibelübersetzung des Hieronymus wiederherzustellen. Als Grundlage dienten ihnen dazu Texte, die Alkuin aus England mitgebracht hatte. Er brachte eine Reihe einbändiger Bibeln heraus, von denen viele mit herrlichen Buchmalereien geschmückt waren. Aber diese Bibeln enthielten auch zahlreiche Randbemerkungen des Alkuin, in denen er die Theologie der Kirchenväter auslegte. Spätere Bibelgelehrte fügten diese Anmerkungen in den Text ein — und das verdarb die Vulgata nur noch gründlicher.