Kürzlich wurden amerikanische Zeitungsleser und Fernsehzuschauer wieder mit Phan Thi Kim Puc bekannt gemacht. Obwohl es den meisten nicht bewusst war, hatten sie diese junge Frau schon einmal gesehen, nämlich in einem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Foto von Nick Ut aus dem Vietnam-Krieg. Sie war das kleine Mädchen, das während eines Napalmangriffs voller Schrecken auf die Kamera zurannte. Inzwischen ist sie erwachsen und verheiratet und hat selber ein Kind. Diese Vietnamesin legte einen Kranz an der Vietnam-Gedenkstätte in der US-Hauptstadt Washington nieder.
„Manchmal glaubte ich, nicht länger leben zu können", berichtete sie einer mucksmäuschenstillen Zuhörerschaft, die sich aus Kriegsveteranen und deren Familien zusammensetzte. „Aber Gott hat mir das Leben gerettet und mir Glauben und Hoffnung gegeben. Könnte ich direkt mit dem Piloten sprechen, der die Bombe abgeworfen hat — ich würde ihm sagen: Wir können den Lauf der Geschichte nicht ändern, doch wir sollten versuchen etwas für den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden zu tun."
Ähnliche Geschichten von Menschen, die ihre Bereitschaft zeigen zu vergeben und sich vergeben zu lassen, stehen im Mittelpunkt des Buches The Forgiveness Factor: Stories of Hope in a World of ConflictThe Forgiveness Factor (USA und London: Grosvenor Books, 1996). von dem freien Journalisten und Rundfunkreporter Michael Henderson.
Mr. Henderson sprach aus Portland, Oregon, mit uns.
Keine Grenzen
„Als ich anfing dieses Buch zu schreiben", sagte er, „musste ich mich ganz ehrlich fragen:, Ist Vergebung — d. h. um Vergebung bitten ebenso wie Vergebung gewähren — eine realistische Philosophie für das Miteinander von einzelnen Menschen und Völkern? Ist nicht angesichts der Geschehnisse unseres Jahrhunderts eine gewisse Skepsis angebracht?"
Doch beim Zusammentragen des Materials wurde es Henderson immer klarer, dass Vergebung keine nationalen Grenzen kennt und dass sie die Macht hat, den Teufelskreis von Hass und Rache zu durchbrechen. „Dieses Buch", so fuhr er fort, „ist ein Versuch, den Wahrheiten beizukommen, die für alle gelten. Es handelt von Menschen, deren Verhalten von der Norm abweicht, die manchmal sogar zu Lösungen beitragen in Situationen, wo sie ursprünglich als das Problem betrachtet wurden. Das beste Beispiel dafür ist Nelson Mandela, der einst von der Apartheid-Regierung als Hindernis für den Frieden in Südafrika angesehen wurde."
Im Buch wird Professor Willie Esterhuyse von der Universität Stellenbosch zitiert, der sagt: „Wenn Führungsqualitäten und moralische Stärke dadurch gekennzeichnet sind, in welchem Maße ein Mensch fähig ist, Bitterkeit und Rachegefühle, die er aus guten Gründen empfinden könnte, zu überwinden und zu neutralisieren, dann ist Präsident Mandela eine der größten Führungspersönlichkeiten der Welt. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis ließ er es nicht zu, dass er zu einem Gefangenen von Bitterkeit wurde."
„Diese Wende", so Henderson, „zeigt, dass es Auswirkungen auf die ganze Atmosphäre eines Landes haben kann, wenn auch nur eine prominente Persönlichkeit bereit ist zu vergeben. Natürlich muss sich in Südafrika noch viel mehr ändern", fügt er hinzu, „u. a, die wirtschaftlichen Verhältnisse und das Schulwesen. Doch wenn Vergebung die allgemeine Haltung in einem Land ist, dann werden Dinge möglich, an die vorher nicht zu denken gewesen wäre."
Einzelhaft
Henderson erzählte uns, wie sehr ihn die Erfahrungen von Dr. Yusuf Omar Al-Azhari beeindruckt hatten, der sechs Jahre lang in einem somalischen Gefängnis in Einzelhaft schmachtete. Wie Dr. Al-Azhari in dem Buch berichtet, kniete er eines Abends tränenüberströmt nieder und bat Gott um Führung. Als er sich schließlich wieder erhob, war es vier Uhr morgens. „Acht Stunden waren vergangen, als wären es acht Minuten gewesen", sagte er. „Ich habe nie in meinem Leben bessere acht Stunden im Gebet verbracht." Von dem Zeitpunkt an hatte Furcht keinen Platz mehr in seinem Leben. Er war frei von Hass, Verzweiflung und Depressionen. Am nächsten Tag fanden die Wächter einen neuen Menschen vor — er war ruhig, brüderlich gesinnt und unterwürfig. „Wie ist es möglich, dass Sie sich über Nacht so verändert haben?" fragten sie.
„Acht Stunden waren vergangen, als wären es acht Minuten gewesen", sagte er. „Ich habe nie in meinem Leben bessere acht Stunden im Gebet verbracht."
Als Dr. Al-Azhari schließlich entlassen wurde, vergab er den Männern, die seinen Schwiegervater (und ehemaligen Präsidenten) ermordert, und den Gefängniswächtern, die ihn so grausam gequält hatten. „Liebe war in mein Herz gepflanzt worden", erklärte er, „und ich schwor mir an Ort und Stelle (im Gefängnis), meinen Landsleuten, arm und reich, zu dienen und ihre Streitigkeiten durch Harmonie, Liebe und Vergebung zu schlichten." Dennoch gibt er zu, dass er noch zwei Jahre brauchte, bis er an den Punkt kam, wo er bereit war, einem weiteren göttlichen Impuls folgend, auch dem Diktator zu vergeben, der ihn ins Gefängnis geworfen hatte.
Über Vergebung hinaus
In seinem Buch gibt Henderson die Erfahrungen von Menschen in den verschiedensten Krisengebieten wieder, darunter andere Teile Afrikas, Nordirland, Kambodia und Russland. Ein Kapitel befasst sich mit der Rolle, die Vergebung beim Heilen von Rassenkonflikten in den USA spielt.
„Mich interessiert Vergebung nicht als Methode", betont er. „Dieses Buch handelt von Menschen, die ein tiefes Erwachen in ihrem eigenen Gewissen erlebt haben. Ich denke, das ist etwas, was jeder erleben kann. Die Menschen, mit denen ich Gespräche führte, haben ihr Leben nicht durch Hass vergiftet. Sie haben über die Vergebung hinaus Erfüllung gefunden. Sie setzen sich dafür ein, etwas gegen die Verhältnisse in der Welt zu tun. Und ich denke, dieser Weg steht uns allen offen, wenn wir einmal eine Bestandsaufnahme der Mängel in unserem Leben machen und daran arbeiten, die Dinge in unserer Umgebung zu verbessern."
