Das Interview im Herold diesen Monat mit dem amerikanischen Autor und renommierten Professor der Rechtswissenschaft Stephen L. Carter macht deutlich, wie wichtig Integrität für das Wohl eines Volkes ist. In seinem 1996 erschienenen Buch Integrity nennt Dr. Carter drei grundlegende Kriterien, die bei der Anwendung seiner Definition von Integrität zu berücksichtigen sind. Dazu gehören: „1.) zu erkennen, was richtig und was falsch ist; 2.) zu handeln nach dem, was man erkannt hat, auch wenn es Nachteile für einen bringt; und 3) frei heraus zu sagen, dass man nach seinem Verständnis von Recht und Unrecht handelt" Integrity (New York: HarperCollins, 1996), S. 7. Er fährt fort: „Das erste Kriterium stellt Integrität als etwas dar, was einen bestimmten Grad an moralischer Reflexion verlangt. Das zweite lässt erkennen, dass das Ideal eines integren Menschen Standhaftigkeit umfasst, worunter auch das Einhalten von Verpflichtungen fällt. Das dritte erinnert uns daran, dass ein Mensch, der Integrität beweist, sich nicht schämt, recht zu handeln.” Integrität könnte also in menschlichen Angelegenheiten wirkungslos bleiben — ja überhaupt nicht funktionieren —, wenn sie nicht mit persönlicher Verantwortung verknüpft ist.
All dies ist begreiflicherweise von entscheidender Bedeutung für das Selbstwertgefühl und das Identitätsbewusstsein des Einzelnen wie auch für das soziale Gefüge, in dem die Menschen leben, interagieren und ihre Vision von einer sinnvollen Existenz herausbilden. Und wenn wir jetzt einen weiteren Aspekt zum Thema Integrität hinzufügen, können wir noch eine andere Facette ihrer wunderbaren Kraft erkennen. Vom geistigen Standpunkt aus betrachtet ist Integrität mehr als nur das notwendige moralische Fundament, auf dem die Gesellschaft ihre besten Bestrebungen und Ideale aufbaut. Aus dieser Sicht ist Integrität eine Eigenschaft Gottes, die tatsächlick Gott zum Ausdruck bringt.
Diese Integrität besteht in geistiger Ganzheit und Vollständigkeit. Wenn eine Gesellschaft in jedem Sinne des Wortes gesund sein soll, kann sie nicht ohne die Verwirklichung dieser tieferen, geistigen Natur von Integrität auskommen. Wenn Sie und ich gesund sein sollen, können auch wir nicht ohne sie auskommen. Wir können nicht ohne die Erkenntnis auskommen, dass geistige Integrität oder Vollständigkeit die eigentliche Wahrheit über das Sein des zu Gottes Bild geschaffenen Menschen ist. Sie kennzeichnet unsere wahre Identität und Individualität.
Integrität mag allgemein als die Eigenschaft betrachtet werden, die bestimmt, wie moralische Gesundheit, selbstlose Rechtschaffenheit, Charakterstärke und der echte Mut mitfühlenden und prinzipienfesten Verhaltens gegenüber den Mitmenschen äußerlich in Erscheinung tritt. Und doch ist sie als geistige Eigenschaft immer noch viel mehr als selbst die Summe dieser einzelnen Teile. Geistige Integrität hat, wenn sie richtig verstanden und gelebt wird, sehr viel mit unserer Gesundheit zu tun — mit der körperlichen wie der geistigen Gesundheit. Sie fördert das ungestörte Funktionieren, ja die beständige Harmonie, von Gemüt und Körper. Da solche Integrität die eigentliche Natur Gottes zum Ausdruck bringt, führt sie zu einer Reinheit des Denkens und Handelns, die jene Vollständigkeit oder vollkommene Gesundheit offenbar werden lässt, die das höchste Ziel jeder wahren Heilung ist.
Das Neue Testament liefert uns das höchstmögliche Beispiel für moralische wie geistige Integrität. Christus Jesus ist sowohl auf den Marktplätzen wie in der Synagoge anzutreffen. Hier wie da tritt er für etwas ein, was die Menschen seiner Zeit so in Erstaunen setzt, dass die einen ihn einen Gotteslästerer nennen, während die anderen ihn als den Sohn Gottes bezeichnen. Er hat die gleiche Botschaft von Gottes Wahrheit für die religiösen Pharisäer wie für die Politiker des Landes, für Edelleute wie für normale Bürger. „Tut Buße", ruft er, „denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen." Mt 4:17.
Jesus trat für jedermanns unveräußerliche Rechte als Kind Gottes ein — und für die allen innewohnende Fähigkeit zu wissen, dass sie Gottes Söhne und Töchter sind. Davon ließ er sich nicht abbringen. Jesus antwortete niemals ausweichend. Er übernahm die volle Verantwortung für das, was er erkannt hatte. Und er handelte entsprechend — er predigte das Evangelium, heilte die Kranken, gab den Entrechteten und denen, die sich von Gott entfremdet hatten, ihre Rechte wieder und wusch die rein, die sich moralisch und „geistlich" für unzulänglich hielten. Er gab ihnen das Beispiel und den Beweis von Ganzheit und Vollständigkeit.
Schauen Sie sich beispielsweise seine Heilung des Blindgeborenen an. Siehe Joh 9:1—39. Im Angesicht der scholastischen Theologie, die behauptete, dass solche Blindheit auf Sünde zurückzuführen sein müsse, verkündete Jesus, dass es vielmehr eine Gelegenheit sei, Gott zu verherrlichen. Im Angesicht physiologischer Theorien, die behaupteten, diese angeborene Blindheit sei unheilbar, tat Jesus die wahren „Werke Gottes" kund, indem er den Mann heilte.
Der nun sehende Mann sollte bald erfahren, dass seine eigene Charakterstärke und seine gerade erlebte Heilung angefochten wurden. Nachbarn und andere Bürger der Stadt bezweifelten, dass die Heilung stattgefunden hatte, einige unterstellten sogar, dass er nicht der Mann sei, den sie früher betteln gesehen hatten. „Er selbst aber sprach: Ich bin's."
So fragten sie ihn denn, wie er sein Augenlicht wiederbekommen hätte, und er erzählte ihnen von Jesus. Dann brachten sie den Mann zu den Pharisäern, die den Vorwurf erhoben, dass diese Heilung gegen ihr Gesetz verstoße, da sie am Sabbat vollbracht worden sei. Aber der Mann blieb unbeirrt bei seiner Aussage, wie er geheilt worden war.
Die Pharisäer riefen dann sogar die Eltern des Mannes herbei, um sie zu befragen. Da die Eltern jedoch befürchteten, dass sie bestraft werden könnten, sagten sie nur, dass ihr Sohn alt genug sei für sich selber zu sprechen.
Wieder wandten die Pharisäer sich dem Mann zu und versuchten ihn von seiner Aussage abzubringen, dass Jesus ihn geheilt habe. Sie behaupteten, Jesus sei ein Sünder. Doch der Mann blieb fest: „Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend."
Noch immer wollten die Pharisäer nicht ablassen. Was hat Jesus mit dir getan? fragten sie. Der Mann antwortete: „Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt ihr auch seine Jünger werden?"
Jetzt beschimpften ihn die Pharisäer und es wurde sichtlich gefährlich für den Mann. Selbst dann jedoch blieb er standhaft, ungeachtet der möglichen Folgen. „Von Anbeginn der Welt an", erklärte der Mann, „hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun." Daraufhin verstießen sie den Mann aus der Synagoge — für einen Menschen in dieser Kultur und Gesellschaft war das ein furchtbarer Preis, den er zahlen musste. Doch der Mann war geheilt worden und er bewies das. Er würde niemals wieder blind sein; und er sah so viel mehr als die Pharisäer mit ihren Augen aufnehmen wollten. Er sah zweifellos etwas von seiner eigenen Beziehung zu Gott.
Wie Christian Science erklärt, ist Gott göttliche Wahrheit, Liebe und Prinzip. In unserer wahren Natur — dem geistigen Ausdruck, der Widerspiegelung des göttlichen Gemüts — besitzen wir Integrität als eine geistige Eigenschaft. Auf der Basis dieses göttlichen Prinzips lehrte und predigte Jesus und erfüllte er sein Erlösungsund Heilungswerk. In dem Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, das die heilenden Gesetze Gottes erklärt, schreibt Mary Baker Eddy: „Der Apostel Jakobus sagt:, Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken.' " Und im folgenden Abschnitt bemerkt sie: „Dieser Glaube beruht auf einem verstandenen Prinzip. Dieses Prinzip macht die Kranken gesund und bringt die bleibenden und harmonischen Phasen der Dinge zum Vorschein."Wissenschaft und Gesundheit, S. 487.
Wenn wir unsere wahre Natur als Ausdruck des göttlichen Prinzips erkennen und wenn wir diese Wahrheit leben, danach handeln und bereit sind öffentlich für die Wirklichkeit der Beziehung des Menschen zu Gott einzutreten, dann entdecken wir unsere angeborene Integrität. Wir werden gesund. Und diese geistige Ganzheit und Vollständigkeit trägt etwas kraftvoll Erfrischendes zur Gesellschaft bei.
