Ein älterer Herr stürmte nach mir in den Laden. Er wirkte aufgebracht und war, wie sich später herausstellte, ein guter Kunde des Geschäfts. „Es wird ja alles schlechter hier! Wir werden immer ärmer. Steht sogar in der Zeitung!”
In dem Moment erinnerte ich mich an einen Artikel in der Tagespresse. Der hatte von zunehmender Verarmung und sinkenden Einkommen bei den niedrig bezahlten Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik berichtet.
Im Laden herrschte zunächst betretenes Schweigen. Bis die Verkäuferin den Herrn mit Namen ansprach und sagte: „So kennen wir Sie doch gar nicht! Seit wann jammern Sie denn über irgend etwas herum!” Da schlich sich ein Schmunzeln über das Gesicht des Herrn und er erzählte, dass er diesen „Angriff”, wie er es nannte, schon auf mehrere Leute „verübt” hatte. An der Bushaltestelle, im Supermarkt und einfach an der Straßenkreuzung. „Es ist so interessant!”, schilderte er seine Beobachtung. „Eigentlich alle schwenken auf dieses Gejammer ein und klagen mit und bedauern sich und die schlechter werdenden Umstände. Sie sind die ersten, die da nicht mitmachen!” Und von da an war es ein humorvolles Gespräch über ein ernstes Thema: die Achtlosigkeit der Menschen darüber, welche Gedanken sie sich zu eigen machen. Wie gedankenlos viele Menschen sich beeinflussen lassen von dem nächstbesten Passanten auf der Straße. Dass sie nicht mal darüber nachdenken, ob wenigstens die Fakten stimmen. Und wie schnell die Menschen dabei sind sich zu bedauern.
Ich musste neulich wieder an dieses Gespräch denken. Gerade hatte ich in der Bibel eine Stelle gelesen, wo eine Vogelscheuche erwähnt wurde. Und ich sah förmlich vor mir einen Krähenschwarm, der auf die Vogelscheuche zuflog — und natürlich keinerlei Reaktion vonseiten der Scheuche bewirken konnte. Für mich ist dieser Krähenschwarm ein anschauliches Symbol, wie uns Gedanken manchmal regelrecht „anfliegen” — wie ein Vogelschwarm. An uns ist es zu entscheiden, ob wir darauf reagieren — mit Schrecken, Panik, Aggression oder Flucht. Oder ob wir ganz unbeeindruckt stehen bleiben und wissen, dass diese Krähen (Gedanken) wieder verschwinden. Manchmal sogar ohne viel Einsatz, diese Gedanken bzw. die Umstände zu beeinflussen oder gar zu ändern.
Aus vielen Gesprächen und eigener Erfahrung mit so manchen Themen weiß ich inzwischen, dass Gedanken uns manchmal anfliegen können — völlig unabhängig davon, ob sie eine Berechtigung für uns haben oder nicht. Und diese Gedanken können völlig unterschiedliche Inhalte haben: Sie können ein zurückliegendes Ereignis immer wieder in Erinnerung bringen, Aussagen über einen Familienangehörigen oder über unseren eigenen Körper treffen oder wir können sie auch im Radio aufgeschnappt haben. Den ganzen Tag über strömen Gedanken auf uns ein. Eines aber haben fast alle diese „Krähenschwärme” gemeinsam: Sie kommen mit einem Anspruch auf Glaubwürdigkeit daher — der nur allzu häufig mehr als fragwürdig ist.
Die Bibel liefert uns einen schlichten, praktikablen Leitfaden: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.” Das heißt nicht, dass wir jedem einzelnen Gedanken nachgehen müssen. Oft genügt schon ein kurzes Innehalten und „Hineinlauschen”, aus welcher Richtung diese Gedanken kommen. Die Autorität selbst prüfen zu können, welchem Gedanken wir Einlass gewähren in unser Bewusstsein, kann eine große Freiheit bringen. Wir müssen nicht jedem gedanklichen Einfluss nachgeben noch sind wir ihm hilflos ausgeliefert. Diese Herrschaft über unsere Gedanken ist ein wunderbares Gottesgeschenk an einen jeden von uns. Sie ermöglicht ein weitgehend autonomes Leben, in dem Sinne, dass wir selbst über die Einflüsse in unserem Leben entscheiden können.
Diese Freiheit findet idealerweise noch eine Ergänzung: die Weisheit, sich den wirklich an uns gerichteten Gedanken ehrlichen Herzens zu stellen. Dann können wir sie — so gut wir’s verstehen — berichtigen und phantastische Wirkungen erwarten. Gelassenheit, innerer Frieden, ein Gefühl von Harmonie und Autorität in unserem Leben müssten die Folge sein — und den Krähen ordentlich „ein Schnippchen schlagen”.
