„Das erschütterte mein Universum.” „Das” war das Ergebnis einer Begegnung zwischen einem Arzt und einem Patienten. Das „Universum” war die medizinische Denkart des damals auszubildenden Arztes und heute berühmten
Kardiologen und Nobelpreisträgers Dr. Bernard Lown, M.D.
Die Begebenheit, die Dr. Lowns Universum sowohl erschütterte als auch veränderte, spielte sich in den frühen 50er Jahren bei einer Arztvisite ab in der ambulanten kardiologischen Abteilung des Peter Bent Brigham Krankenhauses in Boston. Dr. Lown erzählt, wie eines Tages sein Mentor und Vorbild Dr. Samuel Levine „unbeschwert zum Bett einer Patientin kam. Er stand dennoch unter Druck, denn bei ihm waren viele Besucher, andere Ärzte, die ihn begleiteten. Levine sagte, dass diese Patientin eine Herzklappenverengung habe, und äußerte dies mit einer Abkürzung des lateinischen Begriffs, wie das Ärzte immer tun.” Die Patientin verstand etwas ganz anderes, wie Dr. Lown kurz danach von ihr erfuhr. Sie dachte, dass diese Abkürzung so etwas wie Endstadium meinte und dass sie noch an diesem Tag sterben müsse.
„So eine Erfahrung kann man sich nicht vorstellen. Da kommt sie her, fühlt sich relativ wohl. Sie hat ein ernstzunehmendes Herzklappen-Leiden, aber sie hätte bestimmt nicht an diesem Tag, oder überhaupt in diesem Jahr, sterben müssen. Das ist doch der Hammer,” sagt er, und schlägt energisch die Faust auf seinen mit Andenken übersäten Tisch.
„Das war’s dann! Ich konnte nichts mehr tun. Kurz darauf, noch am selben Tag, war sie tot. Das erschütterte mein Universum. Daraufhin wurde ich Wörtern gegenüber sehr empfindlich.”
In seinem 1996 auf Englisch veröffentlichten Buch The Lost Art of Healing schreibt er: „Ich kenne nur wenige Heilmittel, die wirkungsvoller sind als ein mit Bedacht gewähltes Wort.” Doch er beobachtete auch, dass Wörter, die das machtvollste Instrument eines Arztes sind, wie ein zweischneidiges Schwert sowohl verkrüppeln als auch heilen können. Während eines Interviews mit Dr. Lown in seiner Brookline Massachusetts Klinik bitte ich ihn, näher auszuführen, was er damit meint, dass Wörter helfen bzw. schaden können.
„Die Macht der Worte übte schon früh Eindruck auf mich aus. In mir selbst sehe ich widersprüchliche Tendenzen. Ich bin mir sicher, dass das jedem so geht. Auf der einen Seite liebe ich die Wissenschaft — wegen ihrer exakten, präzisen und ehrlichen Inanspruchnahme der Wirklichkeit und dafür, dass sie nicht fürchtet, dieser direkt und offen gegenüberzutreten, ungeachtet der Konsequenzen. Auf der anderen Seite sehe ich die Grenzen der Wissenschaft — in Bezug auf die Besonderheit und die einzigartigen Qualitäten des menschlichen Wesens. Nun werden diese Grenzen ausgeweitet. Und die Illusion ist, dass wir an irgendeinem Punkt, alles wissen werden’. Ich denke, dass es eine Illusion ist, denn das Gehirn kann das Gehirn kennen, aber es kann nicht den Verstand verstehen. Da gibt es Grenzen.”
Dr. Lown erzählt, dass er von früh auf verstand, dass „das, was uns als menschliche Wesen definiert, die Sprache ist. Religion hat das erfasst.” Er zitiert Goethes Faust, in dem das Evangelium des Johannes zitiert wird: „,Im Anfang war das Wort’! Im Griechischen heißt es Logos, wie Sie wissen., Am Anfang war das Wort’, also das Wort Gottes.”
„Ich glaube, dass das Wort sehr machtvoll ist. Und das hat mich wirklich wie ein Bulldozer erwischt, denn ich verachtete alle diese Dinge., Das reicht,’ würde ich zu Kollegen sagen„ hören wir mit diesem Blödsinn auf und bleiben bei der Hardware (den Bausteinen) und nicht bei der Software (den Programmen).’ Als ob die Hardware irgendeine Funktion ohne die Software hätte.”
Für einen Arzt, der während unserer 45-minütigen Unterhaltung mit den Augen genauso stark kommuniziert wie mit seiner Stimme, wird der menschliche Hunger nach einem Sinn nicht durch so etwas wie Selbsthilfebücher beantwortet. Das ist eine zu Grunde liegende Konstante, die der Heiler nicht ignorieren darf. Für den Heiler Dr. Lown jedoch verkörpert die Software, die in der Kunst des Heilens verankert ist, sowohl Intelligenz, die man durch Erfahrung gewinnt, wie auch Liebe, die man durch Geben erhält, durch ganz persönliche Zuwendung. Liebe wird durch Mitgefühl, Respekt, Geduld und ernsthaftes Interesse an jemandes Leben ausgedrückt, wenn man die Körperlichkeit hinter sich lässt.
„Der Bostoner Arzt Francis Peabody,” schreibt Lown, „rät, dass das Geheimnis der Pflege eines Patienten darin liegt, sich um ihn zu kümmern.”
Hier sitzt ein Doktor, der nicht gerade Patch Adams ist (ein amerikanischer Arzt, der Elemente wie Spaß, Lachen, Humor und Freundschaft in seiner medizinischen Behandlungsmethode als entscheidend ansieht), aber der genauso schnell lachen wie ernst werden kann. Dr. Lown bittet Patienten oft, einen guten Witz mitzubringen, wenn sie zu einer Verabredung kommen. Denn er weiß, dass die Macht des Humors die Furcht durchbrechen kann.
Ein Patient, so erzählt Dr. Lown, war „hypochondrisch und machte alle verrückt, denn er befürchtete, eine Herzattacke zu bekommen. Am Ende des Besuchs sagte ich:, Kommen Sie in zehn Jahren wieder.’ Er schluckte —, Werde ich so lange leben?’ Und ich sagte:, Wenn ich denken würde, dass Sie nicht so lange leben, hätte ich Sie in einem halben Jahr wieder herbestellt, ich muss schließlich meinen Lebensunterhalt verdienen!’ Der Mann lachte sich kaputt. Er fühlte sich so gut dabei. Und zehn Jahre später, auf den Tag genau, stand er hier! Ohne Termin. Er brauchte nicht wiederzukommen.”
Es war die Weite der Vision wie auch die speziellen Einsichten aus zehn Jahren Zusammenarbeit mit Dr. Levine, die Dr. Lown die besondere Beschaffenheit und die einzigartigen Qualitäten jeder einzelnen Person vermittelten, die Einzigartigkeit eines jeden Patienten als individuelles Wesen. Sein Verständnis von Einzigartigkeit „strömt aus dem besonderen Wort Heilen. Kurieren ist routinierter. Präziser. Auf ein Organ fixiert — man kann ein Herzproblem kurieren, ein Nierenproblem ... Heilen richtet sich an das Zentrum, in dem ein menschliches Wesen Krankheit erfährt oder sich vorstellt.”
„Ich war viele Jahre jemand, der kuriert, bevor ich auch ein Heiler sein konnte. Kurieren handelt mit statistischen Allgemeinheiten — wenn man diese Symptome hat, hat man wahrscheinlich diese und jene Krankheit. Kurieren ist ein weitaus definierteres Gebiet als Heilen. Es ist kartographisch. Es ist geradlinig, lernbar, handhabbar. Junge Leute lieben diesen Aspekt der Medizin, denn es ist etwas, was sie meistern können.”
„Heilen beinhaltet hauptsächlich das, was nicht statistisch ist, was nicht verallgemeinert werden kann, wie es die Wissenschaft tut. Es konfrontiert einen mit der Tatsache, dass jeder Mensch auf so vielerlei Weise verschieden ist.”
„Nun, man lernt, dass die Einzigartigkeit das Problem ist, mit dem man beim Heilen immer konfrontiert wird. Man kommt dahin durch eine sehr alte Form des Arztseins, die mit Lauschen beginnt. Wenn Sie nicht lauschen, hören Sie nicht zu. Und wenn Sie nicht mit Erfahrung lauschen, hören Sie nicht zu. Und wenn Sie nicht mit Einfühlungsvermögen lauschen, hören Sie nicht zu. Wenn Sie nicht mit der größten Seelenruhe lauschen, hören Sie in Wirklichkeit nicht eigentlich zu.”
„Bei den Fertigkeiten eines Arztes gibt es so viel Jargon in der Sprache — die ganzen Tu-dies und Tu das-nicht, dann Psychologie, Pathologie, Neuro-Endrokrinologie, Neuro-Psychiatrie, usw. usw. usw. Ich glaube jedoch, dass der weitaus größere Komplex von dem Ganzen das Lauschen ist.”
Es ist so wichtig, eine Vision zu erhalten, die sich der sozialen Dynamik gegenüber äußert. Religion beispielsweise ist solch eine Vision.
Ob man die Kunst des Lauschens kultivieren, lernen kann? „Hier kommt der Optimismus ins Spiel. Menschen verändern sich ständig. Also kann man diese Kunst lernen. Aber das erfordert eine Denkart, und die Denkart des Arztseins ist die, jemandem helfen zu wollen. Wenn jemand sehr kompetent beim Ersetzen von Herzventilen sein möchte, liegt die Herausforderung an der technischen Geschicklichkeit — meiner Meinung nach ist das jedoch nicht das vollständige Arztsein. Vielleicht nehme ich da eine extreme Position ein. Das Arztsein steht für die Einzigartigkeit des Individuums ein. Darin liegt die größte Belohnung der Medizin — in dem Moment, in dem Sie diese Einzigartigkeit entdeckt haben, haben Sie ein bisschen dazugelernt.”
Was arbeitet gegen die Kunst des Heilens? Dr. Lown antwortet mit dem Bild einer „herabfließenden Kaskade des Idealismus. Das Medizinstudium klopft das aus einem heraus. Sie macht einen Mini-Wissenschaftler aus einem, aber sie lehrt überhaupt nichts über das Arztsein.” Er ist sehr besorgt über das, was er als die Industrialisierung der Medizin bezeichnet.
„Wenn Sie eine Gefäßoperation vornehmen, bekommen Sie $2000. Wenn Sie sich eine Stunde mit dem Patienten unterhalten, bekommen Sie $100. Man muss kein Rechenprofi sein, um zu wissen, dass $2000 20 mal so viel wie $100 ist. Die Gesellschaft entlohnt mich also mit weitaus weniger für die Anteilnahme an einem Patienten.”
„Es ist so wichtig, eine Vision zu erhalten, die sich der sozialen Dynamik gegenüber äußert. Religion beispielsweise ist solch eine Vision. George Bernard Shaw sagte:, Das Christentum wurde nun 2000 Jahre lang gepredigt. Es ist an der Zeit, dass es jemand praktiziert.’ Was die Religion aufrecht erhält, ist Vision. Deshalb ist mein Buch visionär, denn darin heißt es:, Schaut, Heilung ist möglich. Ich mache das.’ Und ich komme von der Seite des Feindes, sozusagen. Mein Leben war von Kardiologie und Hightech bestimmt. Ich habe eine ganze Schlachtordnung von Instrumenten entwickelt, Arzneien eingeführt, die Art und Weise verändert, wie Ärzte Patienten behandeln. Ich bin kein Outsider, der Insider bedauert. Ich bin ein Insider, der [unsere] Unzulänglichkeiten bemerkt. Unzulänglichkeiten können die Gesundheit einer ganzen Kultur gefährden, nicht nur der Medizin.”
Dr. Lown beschreibt sich selbst als Agnostiker, aber er sagt, dass „Agnostizismus nicht [heißt], dass man die geistigen Dimensionen nicht wahrnehmen könnte. Es ist ein Fehler zu denken, dass Spiritualität nur in den Bereich von Religion gehört.” Er kannte Menschen, die sich stark mit Religion identifizierten, aber „ganz ohne Spiritualität, obwohl sie sehr gläubig waren. Sie gingen zur Kirche, zur Synagoge, sie beteten, aber sie hatten keine Spiritualität. Spiritualität ist eine Dimension, die man im Leben findet, und wenn man ein erfülltes Leben lebt, kann ich mir nicht vorstellen, dass es ohne geht.”
Dr. Lown’s Annäherung an das Heilen — und ich verweise eher auf sein Herz als auf sein medizinisches Wissen über das Herz — spiegelt sehr stark grundlegende religiöse Lehren wider: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, ... Liebe deinen Nächsten ... und ganz sicher auch das Sprichwort, das Jesus zitiert: „Arzt, hilf dir selber.” Ob er die Prinzipien von Religion bewusst in seine Arbeit einbezieht?
„Absolut. Ich schäme mich nicht, dies zuzugeben. Ich glaube, dass Religion dennoch zwei Gesichter hat. Eines hat mit dem geistigen Ringen nach Sinn zu tun, und das ist sehr sehr stark.” Das andere Gesicht, so meint er, sei traurigerweise die Exklusivität.
Er sagt, dass Exklusivität — religiöse Gläubige, die ihre „Marke” von Glaubenssystem als die überlegene verkaufen — dazu geführt hat, dass die Religionen menschliche Verschiedenheit zerstören. „Das hat mehr Blutvergießen, Mord, Verfolgung, Terrorismus und Folter hervorgebracht, als die Menschen verdient haben.”
Wäre es nicht angebracht, das die Übeltat der Religion zu nennen? „Oh ja! Ich denke, das ist ein guter Ausdruck —, Übeltat der Religion’ — nur dass es nicht möglich ist, diese Übeltat richterlich verfolgen zu lassen.”
1985 nahm Dr. Lown den Friedensnobelpreis stellvertretend für die „Internationale Vereinigung von Ärzten für die Verhinderung eines Atomkriegs” entgegen, eine Organisation, die er mitbegründet hatte. Ich frage ihn, ob er eine Beziehung sieht zwischen der Kunst des Heilens von Körper und Seele und der Kunst des Heilens von Entzweiungen zwischen Nationen. Erst antwortet er mit einem überzeugten „Nein.” Aber dann fügt er nach einer Pause hinzu: „Was beiden gleich ist, ist das Konzept, eine größere Verantwortlichkeit zu haben als die, die nur bis zum Bettrand geht — das Verstehen, dass man für eine gesellschaftsübergreifende gute Gesundheit die wichtigste Ursache für schlechte Gesundheit behandeln muss, nämlich Armut.”
„Rassismus verursacht ebenfalls Krankheit. Wenn man Menschen helfen möchte, muss man Rassismus etwas entgegensetzen und gegen ihn ankämpfen. Leute an der Harvard School for Public Health (Öffentliche Gesundheit), sowie andere, haben aufgezeigt, dass solange es Ungleichheit in der Gesellschaft gibt, es keinem so richtig gut geht (nach gesundheitlichen Maßstäben), egal ob arm oder reich. Wenn Sie also Ihren Patienten etwas Gutes tun möchten, müssen Sie auch der Gesellschaft etwas Gutes tun.”
An einer Stelle stellt Dr. Lown mir eine Frage: „Wissen Sie, wie alt ich bin?” Das ist ein leichtes Spiel, denn ich las vorhin einen Newsletter, der in der Lobby ausgelegt war, auf dessen Titelseite stand: „Eindrücke mit 80.” Dieser Arzt hier sieht jedoch 20 Jahre jünger aus! „Ich bin einundachtzigeinhalb, und ich bin praktizierender Arzt. Und das große Wunder für mich ist die Tatsache, dass ich fortwährend Entdeckungen mache, wie ich mit jemandem umgehen kann, der ein Problem hat.”
Bevor ich gehe, zeigt mir Dr. Lown noch die deutsche Ausgabe seines Buches (Die verlorene Kunst des Heilens — Anleitung zum Umdenken, Schattauer Verlag 2002, s. S. 5). Er bewundert vor allem die Gestaltung des Buchdeckels. Der Designer verwendete die Abbildung von Francisco Goyas „Selbstporträt mit Dr. Arrieta”, bei dem sich der Künstler als Patient malte, der von einer plötzlichen Krankheit gesundet (wie es bei Goya auch der Fall war). Der Arzt hat zärtlich den Arm um seine Schulter gelegt.
Es ist ein visuelles Zeugnis der heilenden Macht von Zartheit, Sanftheit, Selbstlosigkeit — eines Lebens, das dem Sich-Kümmern gewidmet ist.
S. 5 enthält Auszüge des Buchs von Dr. Bernard Lown Die verlorene Kunst des Heilens — Anleitung zum Umdenken.
Mehr Informationen über Dr. Lown und die Internationale Vereinigung von Ärzten für die Verhinderung eines Atomkriegs finden Sie im Internet unter: www.ippnw.de/20jahre/personen/lown.htm
