Der Unterschied in der Geschichtsschreibung der Vereinigten Staaten von vor dreißig Jahren und von heute besteht darin, dass heute viel weniger Nachdruck auf die „großen weißen Männer” gelegt wird, wie man so sagt, und mehr Nachdruck auf Religion, auf Reformen, auf die Rolle der Frau, auf ethnische Minderheiten, auf die Wertvorstellungen der verschiedenen Gesellschaftsschichten oder auf Krisen. Die Bibliothek wird sehr viel zum Verständnis von führenden Frauen wie Mary Baker Eddy beitragen.
Schauen wir uns zuerst einmal das 19. Jahrhundert so an, wie es die Historiker sehen. Als politisches und kulturelles Jahrhundert beginnt es in vieler Hinsicht erst mit dem Jahr 1815, als sich praktisch eine nationalistische Haltung herausbildete. Mit dem Kauf von Louisiana 1803 sind die USA nicht mehr nur ein Staat entlang der atlantischen Küste. Seit dem Krieg von 1812 und der Niederlage Napoleons beschäftigt sich Amerika mit sich selbst anstatt mit Europa. Und mit dem Kauf von Florida und von Texas, Kalifornien und Oregon begann die Expansion nach Süden und Westen. Europa wird nicht länger als der Kern der amerikanischen Kultur angesehen.
Die Historiker fixieren das Ende des 19. Jahrhunderts auf zwei Daten. Das eine ist das Jahr 1900, in dem der Krieg zwischen den USA und Spanien endete. Neue Gebiete werden erobert, neue imperiale Gebiete erworben. Man kann es auch so sehen: Amerika ist wieder ein globaler Mitspieler. Das andere Datum ist der Beginn des Ersten Weltkriegs. Ich neige mehr zum Beginn des Ersten Weltkriegs, denn der stellt Amerikas Rolle als Großmacht in der Welt wieder her. Für mich dauerte daher das historische 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914, also eine Zeitspanne, die etwa mit dem Leben Mary Baker Eddys (1821-1910) gleichläuft.
Einwanderung und Wachstum der amerikanischen Städte
Mit dem Anwachsen der Fläche der USA um das Fünffache und der Heranbildung einer nationalen Identität im 19. Jahrhundert ging eine ungeheuere Bevölkerungszunahme einher, die die Landschaft von einer agrarwirtschaftlichen zu einer städtischen umwandelte. Bis zu den 1860er Jahren war das Land immer noch überwiegend von der Landwirtschaft geprägt. In den Südstaaten haben wir natürlich große Plantagen und kleine Farmen. Im Norden hauptsächlich kleine Farmen, im Mittleren Westen zunehmend größere Farmen. All das verändert sich von Grund auf in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.
Die Einwanderung spielt eine überragende und komplizierte Rolle bei der Bevölkerungszunahme. Mitte des 19. Jahrhunderts — in den 1840er und 1850er Jahren — bestanden die Einwanderer zuerst vornehmlich aus Deutschen, Iren und Skandinaviern. Viele von ihnen, besonders die Skandinavier und die Deutschen, lassen sich nicht in den Städten nieder, sondern gehen auf die Farmen. Doch in den 1860er Jahren, am Ende des Bürgerkriegs, ziehen die Einwanderer fast ausschließlich in die Städte. Und am Ende des 19. Jahrhunderts bestehen die Einwanderer aus „Fabrikarbeitern.”
Das Ausmaß der damaligen Einwanderung wirkte sich auch anderweitig auf das Land aus. Nach dem Bürgerkrieg kommen viele nicht Englisch sprechende Einwanderer aus Süd- und Osteuropa. Und ein Großteil dieser Einwanderer besteht nicht aus Protestanten, wie die ersten Kolonisten es waren, sondern aus Katholiken. 1830 gab es beispielsweise 300 000 Katholiken in den Vereinigten Staaten. Bis 1860 war die Zahl jedoch auf 3 000 000 angewachsen, und in vielen politischen Bewegungen der 1840er und 1850er Jahre führte das zum Nativismus, der Begünstigung der Eingesessenen, und zum Antikatholizismus.
Die Entwicklung der Klein- und Großstädte und der Industrie ist eine interessante Geschichte im Zusammenhang mit dem Identitätswandel der Amerikaner. In Neuengland zum Beispiel war es in den 1830er und 1840er Jahren meist so, dass die Leute die Saat in die Erde brachten und dann in die nächste Stadt gingen, wo es eine Textil- oder andere Fabrik gab, eine Seidenfabrik oder dergleichen. Dann arbeiteten sie dort und zur Ernte gingen sie wieder zur Farm zurück. Psychologisch und kulturell verstanden sie sich immer noch als Farmer. Sie sahen sich nicht als Teil der Industrie. Mit dem Wachstum der Städte in den 1850er und 1860er Jahren veränderte sich das dramatisch und grundlegend.
Schauen wir uns einmal an, in wie vielen Städten Mary Baker Eddy lebte. Oder welche Möglichkeiten ihr in Bezug auf Wohnorte im Laufe ihres Werdegangs zunehmend offen standen. Für einen Historiker ist es wirklich erstaunlich, in wie viele amerikanische Lebensbereiche sie Einblick hatte. Sie lebte als Frau eines kleinen Bauunternehmers in den Südstaaten. Sie lebte auf einer Farm, wuchs auf einer Farm auf. Sie lebte in Kleinstädten und sie sah, wie Boston sich zu einer amerikanischen Metropole entwickelte.
Technologie und die Verbreitung von Ideen
Die Technologie beschleunigte das Lebenstempo im Bereich von Transport und Kommunikation. Nehmen wir zum Beispiel die Entwicklung der Eisenbahn und des Telegrafen. 1831 findet einer der großen Sklavenaufstände in den USA statt, die nach Nat Turner benannte Revolte in Virginia. Es gab damals keinen Telegrafen, keine Eisenbahn. Die Nachricht über den Aufstand verbreitete sich zu Pferde und durch die Kanalschifffahrt von Ort zu Ort, und sie verbreitete sich langsam, so dass die meisten Menschen, selbst in Virginia, erst nach Tagen von den Ereignissen erfuhren.
Allein aus diesem Grund wuchs diese Sklavenrevolte, die eine riesengroße Panik hätte auslösen können, nicht zu einem landesweiten Aufstand. Sie wurde an Ort und Stelle niedergeschlagen. Springen wir nun einmal zum Jahr 1859, als John Browns Überfall stattfand. Browns Überfall war der Versuch eines Sklavenaufstands in Harpers Ferry im Staat Virginia (im heutigen West Virginia). Dieses Ereignis war praktisch von Anfang an im ganzen Land bekannt. Die Nachricht löste in den Südstaaten Panik aus, denn man befürchtete, dass der Überfall überall im Süden Schule machen würde. Die Nachricht setzte in den Südstaaten fieberhafte Bestrebungen in Gang, aus der Union auszutreten. In den Nordstaaten dagegen rief die Revolte helle Begeisterung hervor. Doch sie wird schnell niedergeschlagen. Warum wurde sie so schnell niedergeschlagen? Weil Soldaten des Bundesheeres eilends herbeigeholt werden. Und man konnte sie schnell herbeiholen, weil es die Eisenbahn gab.
Die technische Entwicklung kam auch Mary Baker Eddy zu Hilfe. Hätte sie ohne die Technik des Buchdrucks, ohne die Technik des Telegrafen, ohne die Eisenbahn ihre Botschaft genauso schnell verbreiten können? Die Antwort ist nein. Es wäre viel schwieriger gewesen. Hätte sie es zwanzig Jahre früher machen wollen, wäre es um vieles schwieriger gewesen.
Aus dem Bürgerkrieg geht eine neue Nation hervor
Der amerikanische Bürgerkrieg war der erste moderne Krieg. Auf beiden Seiten wurden Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen. Die Nordstaaten erlangten durch ihren Sieg eine industrielle, politische und kulturelle Vormachtstellung. Erst 1913 errangen die Südstaaten unter Präsident Woodrow Wilson wieder ein gewisses Maß an Macht. Über fünfzig Jahre hatten sie also keinen Einfluss auf die amerikanische Politik.
Andererseits festigte sich die Einheit des Landes nach dem Krieg. Der Gebrauch des Namens „Vereinigte Staaten von Amerika” ist ein wunderbares Beispiel dafür. Noch 1859 und 1860 wurde bei der Nennung der USA im Englischen das Verb in die dritte Person Plural gesetzt: „The United States of America are ...” 1865 verwendete man den Singular: „The United States of America is ...” Wir haben also als Folge des Krieges ein höheres Maß an Nationalgefühl.
Der Bürgerkrieg — die innenpolitischen Machtkämpfe vor und während des Krieges unter den Gegnern der Sklaverei, und nach dem Krieg wegen des 13., 14. und 15. Zusatzartikels zur Verfassung und die Arbeit des Freedmen's Bureau — brachte einen Kader von afroamerikanischen Führern hervor, darunter viele Frauen. Naben Frederick Douglass war zum Beispiel Sojourner Truth die bekannteste schwarze Persönlichkeit ihrer Zeit.
Schließlich und endlich nahm der Umfang aller Aktivitäten und das Tempo der Veränderungen in den Nord- und Südstaaten nach dem Bürgerkrieg zu. Mitten im Bürgerkrieg schrieb John Sherman an seinen Bruder, General William Tecumseh Sherman, dass überall Fabriken aus dem Boden schossen.
Es war ein Jahrhundert des Wandels.
Lesley Pitts über die Sammlung der Bibliothek
Mary Baker Eddy erlebte viele technologische, geografische und industrielle Fortschritte, die für das 19. Jahrhundert kennzeichnend waren. Sie legte Sammelalben an, von denen sich 33 in der Sammlung der Bibliothek befinden. Sammelalben wurden — wie Kopierbücher — dazu benutzt, Informationen zusammenzutragen und aufzubewahren. Wie Allen Weinstein schon erwähnte, war Eddy bestrebt, die Vorgänge in der Welt zu verstehen. Nicht nur, was in Bow, New Hampshire, vor sich ging oder in Sanbornton Bridge, sondern in ganz Neuengland, in Amerika und in der Welt. Schon von Kind auf schnitt sie sich Zeitungsartikel und Gedichte aus. Sie verfolgte das Zeitgeschehen mit großem Interesse.
Aus Zeitgründen kann ich Ihnen nur ein Bild aus einem Sammelalbum zeigen. Doch schauen Sie einmal, wie viel uns diese eine Seite sagt. Wir entnehmen der in Schönschrift geschriebenen Eintragung, dass es sich hierbei um das Kassenbuch von George Washington Glover, Eddys erstem Ehemann, handelt und es datiert vom Jahr 1839. Auf dieser Seite hier sehen Sie einen Zeitungsausschnitt über die Eigenschaften von Metallen. Er trägt die Überschrift „Metalle” und vergleicht die Metalle verschiedener Jahrhunderte. Das Ganze ist mit einem metaphysischen Thema verknüpft. Weiter unten auf derselben Seite sieht man Gleasons's Pictorial (Gleasons Bilderchronik), ein „Täglicher Rückblick in die Vergangenheit”, der Geschichtsdaten enthält. In den Sammelalben befinden sich zahlreiche dieser Rückblicke. Eddy hat sich die Geschichtsdaten oft angeschaut und diejenigen markiert, an denen sie besonderes Interesse fand.
Auf der rechten Seite sehen Sie eine Artikel mit dem Titel „Protoplasma”. Es ist ein interessanter Beitrag über organische und anorganische Stoffe. In ihm vertritt der englische Prof. Huxley die These, dass bestimmte chemische Bedingungen Leben, Bewegung und fühlendes Denken hervorbringen. Wie der Autor sagt, würden seine Kritiker einwenden, dass seine Theorie die Existenz des Geistes abstreitet.
So haben wir also allein auf dieser einen Seite aus dem Sammelalbum Aufsätze über Geologie, Metaphysik, Geschichte, Chemie und Biologie. Das zeigt die Vielfalt an Themen, mit denen Eddy sich in ihrem Leben beschäftigt hat.
Wenn Sie oben auf derselben Seite genau hinschauen, können Sie sehen, dass dort etwas Handgeschriebenes hervorschaut. Und wenn Sie die Zeitungsausschnitte zurückfalten, stoßen Sie auf eine Notiz in Eddys Handschrift vom Mai 1857. Auf bewegende Weise bringt sie uns Eddys beschränkte Lebensverhältnisse während jener Zeit in Erinnerung. Nur ein Jahr zuvor war Eddys Sohn von der Familie Cheney nach Minnesota mitgenommen worden. Und jetzt ist sie bettlägerig. Sie lebt mit ihrem Mann Daniel Patterson in North Groton. Sie schreibt: „Vergangene Nacht habe ich schlecht geschlafen wegen der Erinnerungen und verletzten Gefühle. Mein Rückgrat ist so schwach und entzündet, dass die geringste Gemütsbewegung Leiden verursacht, das nicht in Worte zu fassen ist. Die darauf folgende Schwäche ist fast genauso schmerzlich. Oh! Wie lange noch muss ich diese Lebensbürde tragen? Diesen sich lang hinziehenden Gang durch Dunkelheit und dumpfen Verfall, ohne von irgendwelchem letzten Trost des Lebens aufgemuntert zu werden, nicht einmal jetzt.” Diese Worte zeigen an, wie einsam sie sich zu dieser Lebenszeit, einer Zeit des Suchens, gefühlt hat, wie verzweifelt sie in dem Augenblick war.
