Vor etlichen Monaten, genauer gesagt, kurz vor Ausbruch des Irak-Krieges, kam ein junges amerikanisches Ehepaar in das Geschäft, in dem ich als Beraterin für Bildereinrahmungen arbeite. Während der Beratung kamen wir ins Gespräch und ich erfuhr, dass der Mann Soldat und hier in Deutschland stationiert war. Sie hatten einige „typisch deutsche” Bilder gekauft, die sie nun auch „typisch deutsch” eingerahmt haben wollten. Als ich ihnen dann den Abholtermin nannte, sagte die Frau, das sei ganz wunderbar, so könne ihr Mann die Bilder noch sehen, bevor er in den Irak ginge.
Erstaunt sah ich sie an: Wie konnte sie das so beiläufig erwähnen? Schließlich ging es doch um ihren Ehemann! Ich jedenfalls war sehr betroffen von der Aussicht, dass dieser junge Mann in den bevorstehenden Krieg ziehen würde. Ich wusste so schnell gar nichts darauf zu sagen.
In allen Medien war dieser zu erwartende und zu befürchtende Krieg gegenwärtig. In Deutschland vertrat man mehrheitlich die Ansicht, dass Krieg nicht richtig sei und dass dieser Krieg unter allen Umständen verhindert werden sollte. Und ich gestehe: ich war und bin noch immer dieser Ansicht. Ich suchte nach Worten, um so etwas wie „vielleicht wird der Krieg ja noch verhindert” auszudrücken. Die junge Frau bemerkte mein Problem und half mir freundlich, indem sie den Satz vollendete: „Vielleicht wird der Krieg ja nicht lange dauern”. Ich lächelte zurück. Es kam mir vor, als ob uns Welten trennten.
Dennoch beschäftigte mich diese Begegnung noch sehr lange. Ich fand die Selbstverständlichkeit bemerkenswert, mit der dieses junge Parr von dem Beruf des Mannes sprach und dass er ihn ohne Wenn und Aber ausübte. Als ich in der folgenden Zeit Berichte über den Irak-Krieg hörte oder las, hatte ich immer auch sein Bild im Kopf. Ich betrachtete fortan alles immer auch mit seinen Augen. Dadurch wurden meine Gedanken mit Sicherheit differenzierter.
Interessanterweise kam die junge Frau in den nächsten Monaten immer wieder in mein Geschäft. Schon bald brachte sie Bilder zum Einrahmen, die ihr Mann aus dem Irak geschickt hatte. Durch die Kontakte mit ihr behielt ich meinen zusätzlichen Blickpunkt auf die Kriegs-Berichterstattung und so gelang es mir, immer etwas neutraler zu bleiben, als es ohne diese Begegnungen der Fall gewesen wäre.
Doch dann kamen die schrecklichen Berichte über die Folterungen und Misshandlungen in den Gefängnissen im Irak! Wie hatte so etwas passieren können? Was bringt einen Menschen dazu, einem anderen so etwas anzutun?
Auf solche Fragen, das habe ich schon lange erkannt, können Menschen mir keine zufriedenstellende Antworten geben. Das sind Fragen für Gott! Und so begann ich, ganz intensiv zu beten. Um zu verstehen — und um einen Standpunkt zu finden, von dem aus ich weiter denken konnte.
Während dieser Zeit sah ich eines Tages im Fernsehen einen Bericht über die Folterungen. Es wurde ein junger Iraker gezeigt, der aus einem dieser Gefängnisse entlassen worden war. Ich war erschüttert, als ich ihn reden hörte. Er sprach leise, resigniert und voller Traurigkeit. Selbst für Vorwürfe schien er zu resigniert zu sein. Als ich ihn reden hörte und in seine traurigen Augen sah, wurde auch ich sehr traurig.
In Gedanken umarmte ich diesen jungen Mann, der mein Sohn sein könnte, und hoffte von ganzem Herzen, dass er getröstet würde ... gestärkt würde ... vergeben könnte ... vergessen könnte ... Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild des jungen Amerikaners auf. Ich umarmte auch ihn ...
Ich musste an Ismael und Isaak denken, die beiden Söhne Abrahams. Die Bibel erzählt im 1. Buch Mose die Geschichte Abrahams, der als Urvater der drei großen Religionen Islam, Juden und Christen angesehen wird. Sein erstgeborener Sohn Ismael gilt als der Stammvater der Araber; die Muslime sehen sich selbst als seine Nachfahren. Von seinem jüngeren Bruder Isaak und dessen Nachkommen berichtet das Alte Testament. Die Geschichte dieses Geschlechts ist gleichzeitig die Geschichte des Volkes Israel, d.h. die Juden und dadurch auch die Christen gehen auf Isaak zurück.
Mir kam in den Sinn, dass, ebenso wie die beiden biblischen Brüder, durchaus auch die beiden jungen Männer, der Amerikaner und der Iraki, an Gott glauben könnten, wenngleich sicherlich auf sehr unterschiedliche Weise. Und wahrscheinlich auch ganz anders als ich. Aber: beiden würde ihr Gebet helfen. Diese Gedanken gaben mir letztlich meinen inneren Frieden wieder zurück.
Was mir allerdings Sorgen machte, war die Tatsache, dass die junge Frau plötzlich nicht mehr kam. Sie holte nicht einmal mehr die Bilder ab, die bereits seit langem fertig waren.
Endlich fasste ich Mut und rief sie an, um an die Bilder zu erinnern. Da niemand ans Telefon ging, musste ich auf den Anrufbeantworter sprechen, was meine Sorge nicht gerade verringerte. Wenige Tage später kamen beide, sie und ihr Mann(!), ins Geschäft. Sie entschuldigten sich, dass es so lange gedauert hatte. Die Stationierung in Deutschland sei nun auch bald beendet und sie hätten alle Hände voll zu tun gehabt mit der Vorbereitung der Verschiffung usw. Ich war so erleichtert, dass es ganz spontan aus mir rausplatzte: „Na, was für ein Glück, dass es diese Gründe waren! Ich hatte ganz andere Befürchtungen ... Ich dachte immer an den Krieg ...” Während ich sprach, fiel mein Blick auf den jungen Mann. Er wandte sich ab – und ich sprach nicht weiter ...
Als wir uns dann voneinander verabschiedeten und ich dem jungen Mann die Hand gab, sah ich Tränen in seinen Augen – und er sah Tränen in meinen Augen.