Hier lesen Sie die Fortsetzung des Interviews mit Herrn Prof. Dr. Heinrich Beck.
Herr Prof. Dr. Beck, Sie haben ja viel zur Friedensgestaltung Durch Völkerverständigung Beigetragen. Können Sie Mir Noch von Einem Beispiel erzählen, bei dem Sie genau gemerkt haben, dass es zu solch einem Frieden gekommen ist?
Ich denke da an eine ganz konkrete Situation. Es war bei einem Kongress in Nairobi vor vielen Jahren. Ich hielt einen Vortrag über ein kulturphilosophisches Thema. Ich habe einige Thesen vorgetragen, wonach in der europäischen Kultur vor allem ein rational-distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit sich zeige und es im afrikanischen oder asiatischen Bereich eine größere Fähigkeit gebe, intuitiv die Dinge zu erfassen und aus dem Herzen heraus intuitiv zu antworten-nicht so sehr aus dem Verstand. Das empfand man als Abwertung. Man hat sich fast ausschließlich an meinem Referat festgebissen und mich angegriffen. Ich würde einen europäischen Herrschaftsanspruch auf Rationalität erheben. Auch der Afrikaner sei rational, wurde mir entgegen gehalten, wenn es auch eine andere Art von Rationalität sei. Das müsse man als Europäer erst mal lernen, sehen lernen, dass auch auf afrikanischer Seite rationale Fähigkeiten sind. Ich überlegte, ob ich nicht abreisen solle, so ausschließlich negativ wurden meine positiven Absichten bewertet und, wie ich das Gefühl hatte, total missverstanden. Und dann entschied ich mich – nein, ich bleibe jetzt. Ich bin nicht beleidigt und in meiner europäischen Ehre gekränkt, sondern als Mensch gefordert.
Ich überlegte, ob ich nicht abreisen solle, so ausschließlich negativ wurden meine positiven Absichten bewertet und missverstanden.
Ich blieb – zunächst dem Kongress einen Tag fern, um mich zu sammeln – und kam dann wieder zu den anderen Vorträgen. Ich hielt mich relativ zurück. Und plötzlich hieß es am Schluss, ich solle für die ausländischen Gäste beim Staatsbankett sprechen, das für den letzten Tag angesetzt war. Ich dachte, jetzt soll ich wohl total in die Pfanne gehauen werden. Dann habe ich versucht, ganz locker zu sein, es ist eh alles verloren. Ich nahm mich ganz zurück. Es ging mir gar nicht mehr um Positionen. Ich sprach über „Intuitiv Rationality and Rational Intuitivity” (intuitive Rationalität und rationale Intuitivität). Das war’s. Und dann war ich ein „Full-Brother”! Weil ich mich eben als Mensch habe kommen lessen, aus dem Herzen heraus. Die Ratio, den Verstand, nahm ich zurück und suchte, vom Herzen aus zu verstehen und den Menschen zu bejahen. Das heißt also, meinen Verstand in seinem Ursprung zu re-integrieren, denn das Verstehen hat ja seinen Ursprung im Herzen und bejaht den Menschen. „Full-Brother”! Ich wurde umarmt und total integriert. Meine These schienen dann gar nicht mehr so aggressiv und wir haben darüber gesprochen. Das war ein Erlebnis von Friede. Friede, der aus dem Herzen kam, der nicht bloß ein Machwerk des Verstandes war.
Was hat Sie dazu bewogen zu bleiben?
Da gibt es zwei Komponenten. Einmal eine Verstandes-Überlegung – es gibt ja vielleicht doch noch eine Chance für mich und die europäische Seite, die ich zu vertreten hatte. Und auch den Anschluss zu finden und vielleicht die anderen noch besser kennen zu lernen. Und zweitens die andere Komponente, die war bei weitem stärker, das Herz. Lass das doch mal, sagte ich so aus dem Herzen heraus, lass doch mal kommen. Es war eine gewisse Neugier des Herzens.
Diese Neugier ist also erwacht als etwas, das die nächsten Schritte in Gang setzte...
Ja, eine Neugier des Herzens ist erwacht, nachdem ich mit dem Verstand und dem rationalen Willen gescheitert war: Genieße es, lass es kommen, lass es mal und nütze die Zeit doch dafür, mit den Menschen einmal menschlich näher zusammen zu kommen.
Hatten Sie Gott in dem Moment hinter Ihrem Rücken gespürt, als Stütze und liebevollen Beistand?
Ich hatte den Begriff „Gott” wohl auch da. Aber nicht nur als Begriff. Doch ich kann mich gar nicht mehr so genau daran erinnern. Es waren wohl Geburtswehen damals. Es wollte etwas geboren werden. Das spürte ich. Ich stellte mich als Geburtshelfer zur Verfügung. Es wurde der Friede geboren, ein Friede der gegenseitigen Anerkennung, der Freude aneinander, den keiner machen kann, weder ich noch die anderen. Es kam dann von selbst. Es ist die höchste Auszeichnung, ein Bruder zu sein, ein völlig dazugehörender Bruder. Das würde man nicht in seinen kühnsten Träumen erwarten. Erst der Feind und plötzlich ein Bruder. Ein Bruder ist ja noch mehr als ein Freund.
Ich dachte, jetzt soll ich wohl total in die Pfanne gehauen werden ... Ich nahm mich ganz zurück. Es ging mir gar nicht mehr um Positionen. Das war’s. Und dann war ich ein „Full-Brother”!
Dass man Sie einlud, das Schlusswort zu sprechen, geschah ja, bevor von Seiten der Afrikaner eine Änderung vom Herzen her zu spüren gewesen wäre, aber anscheinend ist sie doch vor sich gegangen.
Da haben Sie Recht, das kommt mir jetzt erst. Es war wohl so. Sie haben in mir offensichtlich mehr gespürt, als nur diesen Wissenschaftler, an dessen Thesen sie Kritik geübt hatten.
Und man hat es Ihnen zugetraut. Sie hatten ja vorher bereits losgelassen, als man Sie bat, das Schlussplädoyer zu halten.
Was ich mir auch gar nicht so zurechtgelegt hatte. Geduld kann man auch nicht „machen”. Es geht einem wie einer schwangeren Frau: man kann das kind bei der Geburt nicht rauskommandieren. Es muss selber so weit sein, und dann muss man allerdings entschieden mitwirken.
Meine Mutter sagte zu mir, als ich hochschwanger war: „Doris, es ist noch kein Kind im Bauch geblieben. Sie kommen alle raus!”
Ja! Und christlich gesehen, wenn ich das am Rande ansprechen darf, heißt es ja bei dem Gespräch Jesu mit Nikodemus: „Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.” (Johannes 3:5). Also nicht machen, sondern geboren werden. Ich erlebe auch bei meinen wissenschaftlichen, größeren Arbeiten diesen Vorgang. Erst kommt die konzeption — die Empfängnis —, die bewirkt, dass ich mich mit einer Idee befasse. Dieses „Kindchen” trage ich dann unter meinem Herzen und versuche alles, was mir begegnet, mit ihm ins Gespräch zu bringen. Ich bin im ständigen Zwiegespräch. Und dann ziehe ich mich zurück, wenn ich merke, jetzt kommen die „Wehen”. Mit den Presswehen presse ich es heraus, indem ich mich ausschließlich mit diesen Dingen beschäftige. Dann beachte ich eine ganz strenge Tagesordnung – Sport, Erholung wird ganz streng eingeplant. Zwei, dreimal habe ich das erlebt, dass das mit einer ungeheuren Intensität herausgeht, als wäre ich in einer höheren Schwingung. Ist es dann draußen, bin ich restlos erschöpft. Das sind Geburten. Die Geburt betrifft das Sein, nicht das Machen. Das ist ein Seins-Ereignis. So geht es mit der Gesundheit, so geht es mit dem Frieden, letztlich mit aller Kreativität.
Wenn man um diese Abläufe weiss, dann kann man auch mit solch aufwühlenden Nachrichten in der Zeitung anders umgehen, weil man weiss, die Hoffnung ist nicht begraben, sondern im Gegenteil – es will und wird etwas daraus erwachsen.
Sie sprachen den Irak an. Das ist ja nur ein Feld. Und doch ein sehr heftiges Feld der Auseinandersetzung der Kulturen. Eine Stätte, an der sich die Geburt des neuen Menschen vorbereiten soll, indem man auf die andere Kultur zugeht, sich ihr erschließt. Nicht den europäischen Begriff von Demokratie, wie es den Anschein hat, auf den dortigen Menschen projiziert und in ihn hineinpresst.
Es wäre ja schön, wenn wir uns von diesem Kulturkreis das „Lassen” ein bisschen abschauten.
Im Islam steht der Aspekt der Einheit sehr stark im Vordergrund. Wir können ihn wahrnehmen, ihn begrüßen, unter Umständen auch als willkommene Ergänzung der eigenen entgegengesetzten Einseitigkeit uns näherkommen lassen. Freilich nicht in der Übersteigerung, ich meine also unter Ausschluss der Pluralität. Wir selbst sind ja in der Gefahr, die Pluralität, in einem absoluten Pluralismus, im Kampf aller gegen alle, sich ihrem eigenen Wesen entfremden zu lassen. Unterscheidung in der Einheit und Einheit in der Unterscheidung – das wäre wohl der Sinn einer Begegnung, wie sie im Irak ansteht. Dass man auch etwas lernt von der anderen Kultur! Und nicht nur sie belehren will, was Demokratie im westlichen Verständnis heißt, sondern es erst mal zur Erfahrung dessen kommen lässt, was der andere an positiven menschlichen Werten hat. Wir stehen, um den Ausdruck noch einmal zu gebrauchen, vielleicht vor einem kreativen Sprung der Evolution der Menschheit. Es soll etwas Neues geboren werden! Ein neuer Mensch, der mehr in der Verantwortung der Natur gegenüber steht, der tiefer zu sich selbst und zu den Mitmenschen kommt, auch wacher für Gott wird, der gewissermaßen nach unten und nach oben wächst, auch in die Breite – aber nicht im Sinne von Gleichmacherei. Das wäre kein echter Friede. Es geht immer um Einheit in der Verschiedenheit.
Und darum, sich darin zu verstehen und zu lassen.
Jawohl. Dass man in seiner Verschiedenheit den anderen berücksichtigt. Wie ja auch in einer Begegnung der Geschlechter der Mann männlicher und die Frau fraulicher wird.
Gerade weil beide beides in sich tragen.
Genau. Wenn ich als Mann nicht auch weibliche komponenten hätte, könnte ich die Partnerin ja gar nicht verstehen. Und ebenso auch umgekehrt. Anders gesprochen: es geht darum, in sich selbst als Europäer den Afrikaner gewissermaßen zu erwecken – und den Asiaten. Das Prinzip der „Einheit in der Verschiedenheit” ist auf diese große Situation zu übertragen.
Ja! Das ist ein schöner Gedanke.
Die Geburt des neuen Menschen – das steht an. Das gibt Anlass zur Hoffnung. Allerdings nicht zu einer Hoffnung der Untätigkeit, sondern einer aktiven Gelassenheit. Es ist eine Erkenntnis, nicht nur eine Erfahrung. Die Erkenntnis beginnt bei der Erfahrung. Man hat zunächst, rein methodisch, die Erfahrung begrifflich zu sichern. Aber im zweiten Schritt des Denkens muss man dann über die bloße Erfahrung hinaus gehen und versuchen, ihr denkend auf den Grund zu blicken – was drückt sich in den Gegebenheiten der Erfahrung aus?!
Genau das haben wir ja hier gerade versucht!
Ja, die Erfahrung aufzuschließen.
Und das wird noch weiter gehen, in jedem noch weiter arbeiten.
Ja. Ich bin ein Verfechter der Hoffnung. Nicht eines naiven zukunfts-Optimismus, der die Hände in den Schoß legt und sagt, es wird sowieso automatisch alles besser. Ebenso wenig aber eines gleichermaßen kurzschlüssigen Pessimismus, der sagt, es hat keinen Wert sich zu engagieren, es geht alles den Bach hinunter. Sondern Hoffnung heißt: Erwartung des Guten aufgrund von Argumenten und des persönlichen Einsetzens. Aufgrund letztlich auch der göttlichen Zusage zu helfen. Der Schöpfer will weiterhin am Werke sein. Wir müssen gewissermaßen die Kooperateure Gottes sein! Atheismus ist ein Scheitern eines zu begrenzten Gottesbegriffs.
... weil er die Grösse Gottes gar nicht erfassen kann?
Ja, ja. Man negiert nicth Gott schlechthin, sondern unter dem begrenzten Begriff Gottes, den man bislang hatte, wenn man meint, für Atheismus eintreten zu müssen. Unbegrenzte schöpferische göttliche Liebe geht in unseren begrenzten menschlichen Verstand begrenzt ein und unbegrenzt über ihn hinaus.
Dabei ist Liebe der Schlüssel für alles.
Wir können nicht sagen, wir wissen es gar nicht, was unbegrenzte schöpferische Liebe ist. Noch können wir sagen, wir wüssten es adäquat. Weder noch. Wir haben einen Begriff des Unbegrenzten notwendigerweise, wenn wir unsere eigene alltägliche Begrenztheit erfahren. Mit seiner Erkenntnisfähigkeit, mit seinen guten Ideen ist man bald an seiner Grenze. Wenn man seine eigene Begrenztheit erfährt, und auch akzeptiert, hat man einen Begriff darüber hinaus. Einen Begriff des Unbegrenzten. Aber dieser Begriff des Unbegrenzten bedeutet kein unbegrenztes Begreifen des Unbegrenzten. Wir haben einen nur sehr begrenzten Begriff des Unbegrenzten, so dass man sagen kann, das Unbegrenzte, also unbegrenzte Liebe, unbegrenztes Leben, unbegrenzte Freiheit, unbegrenzte Schönheit, unbegrenzte Herrlichkeit, unbegrenztes Glück geht begrenzt in unser Verständnis hinein.
Und doch führt uns dieses Verständnis weiter.
Ja, das ist faszinierend. Das Unbegrenzte geht begrenzt in unseren begrenzten Begriff ein und gleichzeitig unbegrenzt über ihn hinaus! Das ist die Formel. Wir wissen, wo es ist. Gott ist nicht jenseits der Schönheit, nur der begrenzten Schönheit. Er ist nicht jenseits der Liebe, er ist jenseits unseres begrenzten Verstehens von Liebe – noch mehr Liebe, noch mehr Schönheit jenseits unserer Grenzen, nicht jenseits des Seins. Das Transzendieren, das Übersteigen, heißt nicht, über das Sein steigen, sondern über die Begrenztheit unseres begrenzten Seins steigen. Das ist auch ein Lassen. Ein aktives Lassen. Das ist auch einer der hier wegweisenden Begriffe – aktive Gelassenheit. Ergebnis einer fruchtbaren Begegnung von West und Ost wäre, dass unsere teilweise übersteigerte und unweise Aktivität zu einer gelasseneren Aktivität wird und die dortige teilweise zu passive oder fatalistische Gelassenheit zu einer aktiveren, zielgerichteten Gelassenheit.
Es ist schon spannend zu sehen, wie es nun weiter geht, ob sich diese Gegensätze der Kulturen noch weiter einander nähern, da wir doch schon lange daran arbeiten.
Man kann es halt nicht „machen”. Man muss also die eigenen Grenzen akzeptieren lernen, das ist ein Lernprozess. Und das Lernen bekommt in dem Maße Schwung, wie man Teilerfolge erleben kann. Und das ist eine Beglückung, die sich immer wieder ereignet, eine Friedensbegegnung, die man nicht erzwingen kann, aber an der man arbeiten muss und die letztlich ein Geschenk „von oben” ist. Aber da kann man darauf bauen.
Das ist wirklich tröstlich, denn wir sind ja alle im Moment in einem Lernprozess.
Ja, da braucht man sich gegenseitig zur Ermutigung.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses ermutigende Gespräch!
Ich danke Ihnen auch.
Biografisches über Prof. Dr. Heinrich Beck
• Bamberger Philosophie-Professor, der in den achtziger Jahren die Forschungsstelle für „Interkulturelle Philosophie und Comeniusforschung” (nach dem mährischen Denker und Gelehrten Johann Amos Komensky, genannt Comenius, 1592-1670) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg einrichtete zu den Themen Völkerverständigung und Friedensschaffung, mit intensiver Zusammenarbeit mit tschechischen Forschungseinrichtungen.
• Autor von 30 Büchern und mehr als 300 Aufsätzen und Beiträgen zur Theoretischen und Praktischen Philosophie, stets international ausgerichtet.
• Mitglied der „Europäischen Akademie der Wissenschaften und künste” sowie der „Internationalen Akademie der Wissenschaften”; Ehrenprofessuren in Salzburg, Madrid, San Salvador, Buenos Aires, Salta.
• Mitherausgeber dreier außereuropäischer Fachzeitschriften in Jakarta (Indonesien), Mexico-City (Mexiko) und Maracaibo (Venezuela).