Unfähig. Feige. Schwach. Diese oder ähnliche Worte können einem in den Sinn kommen, wenn man an jene denkt, die „die andere Backe hinhalten”. Zumindest erscheint es als ziemlich passives Verhalten, die andere Backe hinzuhalten. Und mancher mag es als eine sinnlose oder unrealistische Reaktion erachten. Rache, Erwiderung auf Böses, Hassen, Schimpfen, den Täter des Bösen persönlich bestrafen oder irgendeine Aktion gegen jene, die uns Unrecht getan haben, scheint hingegen eine natürliche menschliche Regung zu sein. Aber kürzlich habe ich mich gefragt: Bedeutet das Hinhalten der anderen Backe vielleicht einen höheren Aufruf zur Tat?
Ich dachte über diese Möglichkeit nach, als ich mit Versen der Bergpredigt von Christus Jesus betete: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei“ (Matthäus 5). Dann fand ich in Wissenschaft und Gesundheit neben der Randüberschrift „Nächstenliebe für Gegner” diese christliche Instruktion folgendermaßen erklärt: „'Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.' Das heißt, fürchte nicht, daß er dich für deine Geduld wieder schlagen wird” (S. 444).
Ich muss zugeben, daß ich von dieser letzten Aussage ein bisschen verwirrt war. Die andere Backe hinzuhalten hatte für mich immer bedeutet, „es geduldig hinzunehmen”. Aber hier war die Erwartung, daß eine milde Antwort, für die man befürchten würde, noch mehr Gewalt oder Übeltaten erleiden zu müssen, keinen weiteren Schaden heraufbeschwören würde. Wie war das möglich? In der Erwartung einer Antwort wandte ich mich wieder an die Bergpredigt.
Als ich ein bisschen weiter in dem Abschnitt von Matthäus las, fand ich, daß Jesus seine Forderung, die andere Backe hinzuhalten, mit einem eindeutigen Ruf nach Taten verknüpfte. Er sagte: „Liebt eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch verachtend benutzen und euch verfolgen (nach der King-James-Bibel). Lieben. Segnen. Gutes tun. Beten. Keinerlei Hinweis auf passives Erdulden. Statt dessen diese lebendige, positive Tätigkeit, die auf ein erwartetes Ergebnis hindeutet — Heilung! Jesus selbst bewies die Macht von Lieben und Segnen und Gutestun und Beten in seinem täglichen Wirken. Manchmal wurde die Heilung von einer gewalttätigen Situation entfernt, zum Beispiel als Jesus durch die Menge hindurchging, die versuchte, ihn den Abhang eines Berges hinabzustürzen (siehe Lukas 4). Oder ein anderes Mal verwandelte er einfach Böses in Gutes, als er das Ohr des Knechts des Hohepriesters heilte, der versuchte hatte, ihn gefangen zu nehmen (siehe Lukas 22).
Eine Durchsicht der Bibel als Ganzes enthüllt, daß zahlreiche Leute Heilung erlebten, indem sie aktiv die andere Backe hinhielten. Zum Beispiel Josef, der keine Zeit mit unproduktivem Wirken wie Hass, Rache oder Selbstmitleid vergeudete. Auch lehnte er sich nicht einfach zurück und „nahm es hin”. Statt dessen wandelte er jeden negativen Vorfall in eine Gelegenheit um, seine eigene Hingabe an das Gute, die Liebe und Vergebung seinen nächsten Mitmenschen gegenüber sowie den Segen für seine Gemeinde weiter zu demonstrieren. Daniel strebte danach, seinen bestmöglichen Dienst bereitzustellen, statt gefangen genommen zu werden. Und seine hingebungsvollen Gebete zu Gott brachten ihm Freiheit und Schutz. Statt sich in Selbstmitleid, Selbstgerechtigkeit und Groll zu verlieren, betete Paulus und konnte die Mannschaft und die Mitgefangenen des Schiffs, auf dem er während eines Sturms transportiert wurde, beruhigen, daß sie alle durch Gott gerettet werden würden. Ein anderes Mal wurde er nicht nur von Gefängnisfesseln durch Gebet befreit, sondern brachte seinen Gefängniswärter auch noch dazu, den Christus zu akzeptieren!
Ich erkannte, daß wir im Grunde bekräftigen, daß das Böse kein Gewicht für unsere Erfahrung hat, wenn wir die andere Backe hinhalten, statt bereitwillig weiteren Missbrauch durch den Täter einer bösen Tat zu akzeptieren.
Ich erkannte, daß wir im Grunde bekräftigen, daß das Böse kein Gewicht für unsere Erfahrung hat, wenn wir die andere Backe hinhalten, statt bereitwillig weiteren Missbrauch durch den Täter einer bösen Tat zu akzeptieren. Ist das nicht eine aktive Anerkennung von Gottes nahem Reich, genau dort, wo das Böse versucht, Anspruch auf Macht zu erheben? Statt von Furcht, von Hass oder Schikane gefangen zu sein, können wir dabei helfen, das Böse zu eliminieren, indem wir die Allgegenwart der göttlichen Liebe akzeptieren. Mrs. Eddy bemerkte: „Die Macht Gottes bringt den Gefangenen Befreiung. Keine Macht kann der göttlichen Liebe widerstehen.” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 224) Dem Aufruf zur Tat Beachtung zu schenken, so wie es Jesus angeordnet hatte, räumt nichts anderem Wirklichkeit ein als der göttlichen Liebe und ihrer heilenden Tätigkeit.
Es ist nur eine sterbliche Auffassung von uns und anderen, die suggeriert, daß wir alles Recht hätten, mit gleicher Münze das heimzuzahlen, was uns als Vergehen angetan wurde. Aber Rache und Vergeltung bringen nicht die Befriedigung, die sie versprechen. Stattdessen resultieren sie in der Fortdauer zerstörerischen Verhaltens, weil jede Partei versucht, noch einen Punkt draufzusetzen. Diese Beweggründe rufen Leid, Schuld oder Verletzung hervor oder sogar für die eine oder andere Seite den Tod.
Statt uns übereinstimmendem bösen Denken zu unterwerfen, können wir bekräftigen, daß Gott uns geschaffen hat, um liebevoll zu sein und um zu lieben. Das erste Kapitel der Schöpfung erklärt: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn” (1. Buch Mose). Gottes Bildnis kann nur gut sein und Güte ausdrücken. Gott kann Sein Bildnis in dessen ursprünglichem Status von ursprünglicher Güte erhalten und tut es auch. Jesus wies auf dieses sündlose Konzept vom Menschen hin, als er lehrte: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist” (Matthäus 5). Und dieser Befehl, die Widerspiegelung eines vollkommenen Gottes zu sein, bezieht sich auch auf „den anderen”, den scheinbaren Feind. Unsere Pflicht ist es, diese Sicht auf Gottes Widerspiegelung zu akzeptieren, Hass zu entwaffnen und Liebe auszustrahlen — ungeachtet dessen, was die physischen Sinne uns versuchen über jene mitzuteilen, die uns verfolgen.
Kürzlich hatte ich bei der Arbeit Gelegenheit, diese Konzepte anzuwenden, als ein Kollege falsche Anschuldigungen über mich verbreitete–in einem ziemlich lauten Ton, hörbar sogar für einige andere außerhalb des Büros. Es betraf einen Vorgang, den ich mit einem externen Partner und seiner Abteilung zu bearbeiten hatte. Obwohl ich zuerst wie betäubt und verletzt war, erkannte ich sofort die Notwendigkeit an, diesen Menschen so zu sehen, wie Gott ihn gemacht hat. Ich betete darum, meine Auffassung sowohl von ihm als auch von mir zu ändern. Statt sich ungehobelt, anklagend, respektlos zu zeigen, war er liebevoll und spiegelte Gottes Wesen wider. Statt beleidigt und ineffektiv zu reagieren, spiegelte ich Harmonie und Liebe wider. Ich bemühte mich, seine Bedenken zu verstehen, und erkannte, daß er wirklich Gerechtigkeit, Fairness und Respekt suchte. Nach ein paar Tagen Gebet über diese Begegnung und dem Bestreben, diese Person so zu lieben, wie Gott ihn liebte, sprach ich ihn an. Dieses Mal war er sehr freundlich und kümmerte sich darum, daß ich die Information bekam, die ich für den externen Partner brauchte.
Wenn jeder von uns daran arbeitet, bei kleinen Begebenheiten die Macht zu demonstrieren, die darin liegt, die andere Backe hinzuhalten, werden wir das Vertrauen gewinnen, weitere herausfordernde Situationen erfolgreich zu lösen. Und jedermanns geistige Herrschaft über Taten der Aggression kann uns helfen, die Welt von falschen Ansichten über Gottes Männer und Frauen zu befreien.
Effektiv. Mutig. Stark. Das sollten die Wörter sein, die uns in den Sinn kommen, wenn wir jene betrachten, die die andere Backe hinhalten, indem sie Jesu ganzen Befehl ausführen: zu lieben, zu segnen, Gutes zu tun und zu beten. Können wir diesem Aufruf zur Tat folgen?
