Es gibt ein deutsches Sprichwort, das heißt: „Es kann der Bravste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt." Eine Situation, auf die dieses Sprichwort angewandt werden kann, hat mich vor einiger Zeit geradezu gezwungen, über das Thema Feindesliebe nachzudenken.
Eine neue Mieterin hatte schon nach kurzer Zeit fast alle Bewohner unserer Wohnanlage gegeneinander aufgebracht. Am Ende einer langen Phase von Vorwürfen, Anschuldigungen, Boshaftigkeiten, Streitereien usw. sind etliche Parteien entnervt ausgezogen, u. a. auch die Person, die das alles ins Rollen gebracht hatte. Mein Mann und ich hatten von Anfang an versucht, uns aus diesen Dingen herauszuhalten. Das war nicht immer einfach, weil offenbar jemand, der in einem solchen Tumult ruhig bleibt, ganz besonders als Zielscheibe ausgewählt wird. Daß es uns dennoch weitgehend gelungen ist, dafür bin ich wirklich sehr dankbar.
Während dieser Zeit habe ich viel gelernt und ich kann bestätigen, was M. B. Eddy in dem Artikel „Liebet eure Feinde" schreibt, nämlich: „... daß jene unglückseligen Menschenkinder tatsächlich deine besten Freunde sind." Das ist so, weil sie uns zwingen, unseren eigenen Standpunkt zu finden, nachzudenken, zu beten.
Zwei grundsätzliche Fragen stellen sich, wenn wir uns mit dem Thema Feindesliebe befassen:
Erstens: Was ist Liebe?
Die Forderung Jesu „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde“ finden wir in der Bibel (Matthäus 5). Im Urtext wird das Wort agape benutzt, das bedeutet: durch nichts zu erschütternde Güte, Zuneigung und Wohlwollen (William Barclay, Auslegung des Neuen Testaments). Das heißt, Jesus fordert nicht, daß wir unsere Feinde auf dieselbe Weise lieben sollen wie die Menschen, die uns lieb und teuer sind. Agape ist keine Gefühlsregung, sondern ein bewusster Entschluss, Wohlwollen als Grundhaltung unserer Gefühle zu hegen. Dadurch, daß wir beständig, also unerschütterlich, in dieser Überzeugung bleiben, gelingt es uns, selbst denen, die uns kränken, Wohlwollen entgegenzubringen. Dieses Wohlwollen, diese Liebe, diese agape, sollte die Grundlage aller unserer zwischenmenschlichen Beziehungen sein – ganz einfach deshalb, weil auch Gottes Wohlwollen allen Menschen gilt, gleichgültig ob wir sie als Freund oder als Feind betrachten.
Dies bringt uns zur zweiten Frage: Was ist ein Feind?
Mrs. Eddy konkretisiert diese Frage so: „Kannst du einen Feind sehen, es sei denn du formst ihn zuerst in deinem Denken und schaust dann auf den Gegenstand deines eigenen Begriffs?“ (ebd. S. 8) Das heißt: Wenn wir auf einen vermeintlichen Feind schauen, sehen unsere Augen lediglich einen Menschen, sonst nichts – und jeder andere neutrale Betrachter sieht ebenfalls einfach nur einen Menschen. Aber unser begrenztes Denken, das möglicherweise mit Erinnerungen an Zumutungen, Kränkungen, Verletzungen o. ä. angefüllt ist, verbindet dieses Gesicht, diese Person mit unangenehmen Erlebnissen und signalisiert dann: „Achtung! Feind!“ Aber wir sind diesem Denken nicht hilflos ausgeliefert. Es ist lediglich, wie bei der agape, ein bewusster Entschluss erforderlich, um uns aus diesem sterblichen, falschen Denken zu befreien und in unserem Gegenüber einfach nur den Mit-Menschen zu sehen.
Wenn uns dieser UmdenkProzess geglückt ist, dann gilt auch für uns „Liebe deine Feinde ist gleichbedeutend mit du hast keine Feinde.“ (ebd. S. 9) Dieser Satz zeigt auch ganz deutlich die Zielrichtung der Forderung, unsere Feinde zu lieben. Es geht nicht darum, einen sündigen Sterblichen zu lieben, d. h. einen boshaften Menschen sozusagen mit „einem Zuckerguss aus Liebe zu übergießen“ und geduldig alles zu ertragen, was er uns antut. Es geht auch nicht darum, immer derjenige zu sein, der nachgibt oder erduldet oder hinnimmt. Sondern es geht darum, jeden Menschen so zu sehen, wie Gott ihn sieht, als Sein Ebenbild. Und sich durch nichts und niemanden davon abbringen zu lassen, beständig wohlwollende, liebevolle Gedanken zu haben und Liebe zum Ausdruck zu bringen. Damit tun wir in aller erster Linie uns selbst etwas Gutes. Denn wenn wir das beherzigen, können wir uns über jeden kleinkrämerischen Zank und Streit erheben. Dann haben wir tatsächlich keine Feinde mehr und leben in herrlicher Freiheit, in Frieden und in Freude.
Es geht auch nicht darum, immer derjenige zu sein, der nachgibt oder erduldet oder hinnimmt. Sondern es geht darum, jeden Menschen so zu sehen, wie Gott ihn sieht, als Sein Ebenbild.
Wenn ich mich sehr intensiv um das bessere Verständnis eines Gedankens aus der Bibel oder aus den Werken von Mrs. Eddy bemühe, ergibt sich dann oft sehr bald eine Gelegenheit, die neu gewonnene Erkenntnis noch zu vertiefen und zu verfestigen. So auch dieses Mal. Aus einer ganz anderen Richtung fiel zusätzliches Licht auf die Frage: „Kannst du einen Feind sehen ...?“
Mein Mann und ich saßen an der Bushaltestelle in einer englischen Kleinstadt und warteten auf den Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte. Wir hatten eine Hochzeit miterlebt, viele nette Menschen kennen gelernt und ein paar wunderschöne Tage in London und Umgebung verbracht. Nun befanden wir uns auf dem Heimweg. Neben mir auf der Bank saß eine ältere Dame (später erzählte sie mir, daß sie 86 sei), die mit einem Handy telefonierte. Ganz abrupt wurde das Telefonat neben mir beendet, die Dame schien etwas hilflos. Ich blickte auf das Display ihres Handys und erklärte ihr, daß sie eine Nachricht erhalten hatte. Sie schaute mich überrascht an, dann erklärte sie mir, daß dies das Handy ihres Sohnes sei und sie sich deshalb nicht so gut damit auskenne. Nachdem sie eine Weile mit dem Handy „gekämpft“ hatte, fragte sie mich, ob ich Holländerin sei. Der Akzent, mit dem ich Englisch sprach, hatte ihr sicherlich sofort verraten, aus welcher Ecke Europas ich komme, aber erst im Nachhinein wurde mir klar, daß sie mit ihrer Frage nach den Niederlanden einer Hoffnung Ausdruck gab. Ganz unbefangen antwortete ich: „Nein, ich bin Deutsche.“
Sie wandte sich wieder ihrem Handy zu. Nach einer Weile nahm sie das Gespräch mit mir wieder auf und, ohne mich anzusehen, erzählte sie: Als ihr Mann noch lebte, seien sie oft in den Niederlanden in Urlaub gewesen, in Rotterdam und Amsterdam. Ich erwiderte, daß ich diese Städte auch kenne und daß mir die Niederlande ebenfalls sehr gut gefallen.
Wieder beschäftigte sie sich angelegentlich mit ihrem Handy. Dann, den Blick ganz konzentriert auf ihr Handy gerichtet, sagte sie: „Unfortunately“ (unglücklicherweise), dieses Wort sprach sie mit großem Nachdruck aus, habe ihr Mann im Krieg gegen die Deutschen gekämpft ... und nach einer weiteren kleinen Pause: Sie käme nie auf den Gedanken, in Deutschland Urlaub zu machen. Ich antwortete, daß ich das sehr gut verstehen könne.
Nach einem erneuten Schweigen griff sie den Gesprächsfaden wieder auf und fragte, ob wir in Großbritannien Urlaub gemacht hätten (ihre Kopfbewegung in Richtung meines Mannes schloss ihn in diese Frage mit ein). Nun erzählte ich ihr, daß unser Neffe am vergangenen Wochenende eine Engländerin geheiratet hatte. Und einer inneren Eingebung folgend wurde ich nun ausführlicher und sprach davon, wie schön und harmonisch das Zusammensein der englischen und deutschen Familien gewesen war. Ich sprach von der liebevollen Atmosphäre und der Herzlichkeit, die wir alle erlebt hatten. Und dann, gleichsam als Bogen zu dem zuvor Gesprochenen, äußerte ich die Überzeugung, daß solche Verbindungen doch die allerbesten Gelegenheiten seien, um die unguten Zeiten und Erlebnisse zu überwinden.
Zum ersten Mal während des ganzen Gespräches sah sie mir voll ins Gesicht–und sie strahlte mich an: Ja, da hätte ich recht! Nun saßen wir lächelnd nebeneinander, bis kurz darauf der Bus kam. Ich verabschiedete mich von ihr und wünschte ihr einen schönen Tag. Sie sagte: „Ich wünsche Ihnen eine gute Reise“ – hier machte sie eine kleine Pause, legte ihre Hand auf meine – und fügte dann mit Nachdruck hinzu: „Nach Deutschland.“ Am liebsten hätte ich sie umarmt. – Ich beließ es dabei, ihre Hand zu drücken und ihr ein letztes, herzliches Lächeln zu schenken.
Sicherlich war ich nicht die erste Deutsche, die dieser Frau begegnet ist. Und sicherlich war unsere Begegnung nicht der erste Anlass für sie, ihr „Feindbild“ zu überdenken. Was dieses kleine Erlebnis in meinen Augen so bemerkenswert macht, ist ganz schlicht und einfach der Gedanke, daß wir beide mit unserem Gespräch ein wenig zur Erfüllung der Forderung „Liebet euere Feinde“ beigetragen haben.
    