Phillips Brooks, ein Episkopalpriester in Philadelphia, besuchte 1865 das Heilige Land. Man erzählt sich, dass er vom friedlichen Anblick Bethlehems, der sich ihm am Weihnachtsabend von den Hügeln der Umgebung aus bot, derart inspiriert war, dass er dies später zu Papier brachte. Das Ergebnis war das Weihnachtslied „Oh kleines Städtchen Bethlehem", dessen erste Strophe wie folgt lautet:
Oh kleines Städtchen
Bethlehem,
Wie still erscheinst du mir;
Du schlummerst tief,
und schweigend gehn
Die Sterne über dir.
Doch in das Dunkel scheinet
Das Licht der Ewigkeit;
In dir wird heute Nacht erfüllt
Das Hoffen aller Zeit.
(Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, Nr. 222)
Diese Worte der Hoffnung und des Friedens sind – etwa 140 Jahre später – bestens bekannt und beliebt. Und doch sind Begriffe wie Hoffnung und Frieden normalerweise eher nicht die Wörter, die einem in den Sinn kommen, wenn man an das heutige moderne Bethlehem und die Gemeinden in der Umgebung denkt. Es ist eher ein Bild von scharfen Missklängen statt von Harmonie, brutaler Rache statt Vergebung, angespannter Rivalität statt brüderlichem Miteinander. Wo ist das Versprechen von Frieden und „Wohlgefallen gegenüber den Menschen"? Wo ist das „Licht der Ewigkeit"?
Während ich um eine frische heilende Sicht auf die unberechenbare Situation im Nahen Osten betete, dachte ich an die Geschichte der Stadt Babel (siehe 1. Mose 11). Der Bibel zufolge sprachen die Menschen bis zu diesem Zeitpunkt auf der Erde eine gemeinsame Sprache. Dann beschlossen sie, die große Stadt Babel zu bauen, mit einem Turm, der so hoch sein sollte, dass er „bis an den Himmel reiche". Die Bibel berichtet, dass die Menschen sich mehr ein Denkmal für ihre eigenen Erfolge errichteten statt zur Ehre Gottes. Als Ergebnis ihres Stolzes und ihres Materialismus' ließ Gott sie verschiedene Sprachen sprechen, so dass sie sich nicht mehr untereinander verständigen konnten. Die Folge war ein Durcheinander, die Zerstreuung der Menschen und der Verlust ihrer gemeinsamen Identität.
Die Bilder scheinen sich zu gleichen – hier eine gespaltene Menschheit und dort der heutige Nahe Osten mit seinen eklatanten Ungerechtigkeiten, dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht, territorialen Streitigkeiten, politischen Rivalitäten, religiösen Extremen und seiner Brutalität. Experten für den Nahen Osten zitieren eine ganze Reihe komplexer menschlicher Ursachen für diese Situationen. Doch von einer metaphysischen Warte aus gesehen stellt sich die Frage: „Wie durchbrechen wir das hypnotische Bild von Babel, um zu einer friedlichen Verheißung für Bethlehem zu gelangen?"
Mary Baker Eddy beschreibt in Wissenschaft und Gesundheit die geistige Bedeutung von Babel so: „Sich selbst zerstörender Irrtum; ein Reich, das mit sich selbst uneins ist, das nicht bestehen kann; materielles Wissen." (S. 581) Wenn Stolz und Materialismus Gottes Kinder getrennt haben, müssen Menschlichkeit und Vergeistigung des Denkens der Weg zur Heilung sein. Ein guter Ausgangspunkt ist die Frage, wie wir unsere eigene Identität und die unserer Mitmenschen sehen.
Vielleicht gibt es auf der ganzen Welt keinen größeren Kampf um Identität als im Nahen Osten. Von einem menschlichen Standpunkt aus bringt gemeinsame Identität ein Gefühl von Zugehörigkeit, Bestimmung und Sicherheit mit sich. Wenn die Menschen spüren, dass kein gemeinsames Ziel oder eine gemeinsame Verbindung mit anderen besteht, können Gefühle von Spaltung, Rivalität und oft Feindseligkeit auftreten. Im heutigen Nahen Osten nimmt dies einen erhöhten Stellenwert ein, wenn sich Menschen Fragen wie diese stellen: Ist dieser Mensch Muslim oder Christ? Sunnite oder Shiite? Israeli oder Palästinenser? Amerikaner oder Europäer? Araber oder Türke? Die Antwort auf die Frage „Wer bist du?" kann ernste, wenn nicht gar lebensbedrohliche Konsequenzen haben.
Doch hier kann die Christliche Wissenschaft eine allgemeine Grundlage anbieten, die die Menschen zusammenbringt. Diese Wissenschaft lehrt, dass wir alle die Kinder eines liebenden und allmächtigen Gottes sind, da wir geistig sind. Unsere wahre Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit hat nichts mit den menschlichen Umständen der Geburt zu tun, aber alles mit der tiefen, unabänderlichen Natur unserer Identität als Widerspiegelung oder Ausdruck von Wahrheit, Leben und Liebe. Wir können hinter das materielle Bild von tiefen Spaltungen blicken, zu der ursprünglichen Tatsache einer miteinander geteilten geistigen Elternschaft. Dies ist keine weit entfernte Möglichkeit, es ist die immer-gegenwärtige Wahrheit.
Die Überzeugung unseres gemeinsamen geistigen Erbes durchdringt die Lehren Christi Jesu. Seine Begegnung mit einer samaritischen Frau an einem Brunnen zeigte zum Beispiel seine Bereitschaft, hinter ihre persönliche Geschichte und ihr Verhalten zu schauen, um ihr und ihren Nachbarn die höhere Botschaft von Gott als Geist zu geben, der überall mit jedem von uns ist. (siehe Johannes 4)
Jesus, der große Meister-Metaphysiker, wollte, dass seine Zuhörer entdecken, dass die geistige Realität die einzige Realität ist, um dann danach zu leben. Seine Lehren könnten klarer nicht sein: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; ... und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück." (Lukas 6)
Jesu war auf eine tief greifende Art ein Mann der Tat. Mrs. Eddy beschrieb ihn als den „wissenschaftlichste[n] Mensch[n], der jemals auf Erden wandelte. Er tauchte unter die materielle Oberfläche der Dinge und fand die geistige Ursache." (WuG, S. 313) Weiterhin betonte sie seine Botschaft an die Menschheit, dass Gott und der Mensch untrennbar sind, wobei hier Mann wie Frau gemeint sind, als Prinzip und seine Idee, Gemüt und seine Widerspiegelung.
Dies sind nicht nur Theorien; es sind Wahrheiten, die Jesus bewiesen hat, und er hielt uns dazu an, sie ebenso zu beweisen. Die Bereitschaft, in unseren Gebeten für den Nahen Osten unter die materielle Oberfläche zu tauchen sowie die unerschütterliche Einheit zwischen Gott und dem Menschen wahrzunehmen, wird unsere Gebete auf eine neue und tiefergehende Ebene stellen.
Von Zeit zu Zeit halte ich inne und frage mich, wie gut ich die Wahrheit dieses grundlegenden Konzepts lebe und beweise. Welche mentalen Modelle gibt es in meinem Denken? Falle ich manchmal in ein „wir-gegen-die-anderen"-Denkmuster? Wenn ich Berichte über Bombenanschläge im Irak oder in Israel höre, denke ich nicht manchmal, dass ich froh darüber bin, dass die Gewalt „irgendwo weit weg" passiert anstatt innezuhalten und für Frieden und Harmonie für die gesamte Menschheit zu jeder Zeit und überall zu beten? Liefere ich dem Bösen einen Halt, indem ich glaube, dass die eine Gruppe eher das Ziel für Gewalt ist als eine andere – wo doch Gewalt eine Lüge über alle Menschen ist, – da jeder von uns geistig und gut ist? Bin ich nicht manchmal stolz darauf, weil ich glaube, dass „meine Gruppe" intelligenter und besser handelt als eine andere, anstatt den Standpunkt zu verteidigen, dass Weisheit und Güte Teil eines jeden sind? Diese Gedanken der Unterteilung können unterschwellig sein, aber sie führen trotzdem in die Irre.
Christus Jesus hat eindeutig bewiesen, dass das wahre Heilmittel für alle menschlichen Übel ein tieferes Verständnis unserer wahren Identität und unserer Einheit mit Gott ist. Sich unserer Beziehung zu ihm sicher zu sein beseitigt die Rivalität und Angst, die zu Krieg führen kann. Die scharfen Gehässigkeiten sterblichen Denkens, die die Menschheit verletzen und zerteilen, schmelzen im Licht der göttlichen Liebe dahin. Mary Baker Eddy schrieb: „Lasst uns in geduldigem Gehorsam gegen einen geduldigen Gott daran arbeiten, mit dem universalen Lösungsmittel der Liebe das harte Gestein des Irrtums – Eigenwillen, Selbstrechtfertigung und Eigenliebe – aufzulösen, das gegen die Geistigkeit ankämpft und das Gesetz von Sünde und Tod ist." (WuG, S. 242)
Auf welcher Seite kämpfen wir in diesem Krieg? Beschäftigen wir uns mit dem Stolz, dem Materialismus und der Teilung des Babel-Modells oder öffnen wir die Türen des Denkens dem Frieden, der Brüderlichkeit und dem „Licht der Ewigkeit" von Bethlehem?