In der Folge von Massenschießereien in den USA und anderen vergleichbaren Tragödien sieht man in den sozialen Medien eine heftige Reaktion gegen Menschen, die das Hashtag #thoughtsandprayers (Gedanken und Gebete) verwenden. Viele betrachten die Aussage „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Betroffenen“ als Phrasendrescherei, die nichts zu echten Reformen beiträgt. Diese Reaktion betrübt mich, obwohl ich verstehe, dass die Leute darüber frustriert sind, wie wenig konkret unternommen wird, um weitere Schießereien zu unterbinden. Doch als jemand, der betet und sich bei allen Problemen auf Gebet stützt (ob für mich selbst oder die Welt), betrachte ich Gebet keineswegs als passiv. Diese Kritik ließ mich die Gelegenheit erkennen, Gebet genauer zu erklären und zu zeigen, dass es nichts mit Untätigkeit oder Passivität zu tun hat, sondern zu sehr sichtbaren Ergebnissen führen kann. Und ich fühlte mich aufgefordert, selbst noch einmal tiefer nachzudenken, um sicherzugehen, dass meine eigenen Gebete keine Phrasen enthalten.
Für mich geht es bei Gebet nicht darum, einen fernen Gott in der Hoffnung anzuflehen, Er möge uns gnädig sein und alles geben, was wir wollen. Gebet ist begrenzt, wenn es sich vor allem an persönliche Vorteile richtet. Statt es mit dem Ziel anzugehen, etwas für uns zu bewirken, sollten wir uns von Gebet ganz natürlich zu einer tieferen und umfassenderen Liebe führen lassen, die alle einschließt. Das erfordert einiges von uns, denn es zwingt uns dazu, den menschlichen Willen und unsere eigene Zielsetzung aufzugeben und dem Pfad zu folgen, zu dem Gott uns führt.
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Zum Zeitpunkt der Massenschießerei in Las Vegas hatte ich um ein Verständnis gebetet, wie man Spaltung und Aggression handhaben kann. Ich bat Gott um Gelegenheiten für eine aktivere Mithilfe, meinen Mitmenschen ein klareres Verständnis von Einheit und Harmonie zu vermitteln – um die Wut und die Spaltung zu heilen, die wir so häufig in der Welt sehen.Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, schreibt in Nein und Ja: „Wahrhaft beten heißt nicht Gott um Liebe bitten, es heißt lieben lernen und die ganze Menschheit in eine Liebe einschließen“ (S. 39). Die hier erwähnte Liebe hat wenig mit menschlicher Liebe zu tun. Vielmehr entstammt sie einem klareren Verständnis von Gott als göttliche Liebe und von jedem von uns als Ausdruck der Liebe (siehe 1. Johannes 4:16), wie Jesus in seiner heilenden Mission so klar demonstrierte. Diese Art von Liebe schließt wirklich jeden Menschen ein und bringt, was noch wichtiger ist, Umwandlung mit sich – die Änderung im Denken und Handeln, die uns befähigt, diesen Ausdruck der göttlichen Liebe in jedem Aspekt unseres Lebens zu demonstrieren, einschließlich im Umgang mit anderen.
Etwas später arbeitete ich auf der Zugfahrt vom Wohnort meiner Angehörigen nach Hause an meinem Laptop. Kurz nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, setzte sich ein junger Mann neben mich und fragte mich, woran ich arbeitete. Ich erwähnte, dass ich für meine Kirche tätig bin, woraufhin er mir einen sehr lauten und mit Schimpfworten gespickten Vortrag darüber hielt, wie furchtbar Religion ist. Er warf mir vor, davon zu profitieren, dass unwissende Menschen betrogen wurden, und erklärte, nichts mit mir zu tun haben zu wollen.
Trotz dieser beängstigenden Reaktion wusste ich, dass ich die Wahl hatte, wie ich mich verhielt. Einen Augenblick lang war ich geneigt, mich einfach abzuwenden, meinen Kopfhörer aufzusetzen und weiterzuarbeiten. Doch ich wollte das, worüber ich gebetet und was ich in der Christlichen Wissenschaft studiert hatte, ja umsetzen. Ich wollte selbst inmitten all der Feindseligkeit sehen, wie wirksam Gebet ist.
Daraus ergab sich eine zweistündige Unterhaltung. Zeitweilig beteiligten sich auch andere im Abteil, die sehr aufmerksam zuhörten. Ich fand Gebet sehr hilfreich dabei, auf die richtigen Worte zu lauschen, die Gottes Liebe dadurch zum Ausdruck brachten, dass ich mitfühlend und geduldig antwortete, egal wie aggressiv der junge Mann seine Ansichten vorbrachte. Es war eine lebhafte Unterhaltung über die Macht von Liebe, die verschiedenen Konzepte von Gott und unseren Lebenszweck. An einem Punkt umarmten wir uns sogar; obwohl wir nicht derselben Meinung waren, war gegenseitige Anerkennung möglich.
An den darauffolgenden Tagen musste ich oft an den jungen Mann denken. Ich wusste sehr zu schätzen, dass jeder von uns Gottes Liebe im Alltag spüren kann. Es hatte sich eindeutig eine Änderung in uns beiden vollzogen, was unsere Sichtweise voneinander betraf – wir ließen uns nicht durch das abhalten, was uns zu trennen schien, sondern waren fähig, echte gegenseitige Wertschätzung zu üben.
Beten und Handeln gehören zusammen.
Diese Art Gebet hilft uns nicht nur in schwierigen Situationen, sondern macht uns auch die Bedürfnisse unserer Mitmenschen mehr bewusst und erweckt ein tiefsitzendes Verlangen in uns, anderen Hilfe und Heilung zu bringen. Das oben erwähnte Zitat aus Nein und Ja geht folgendermaßen weiter: „Das Gebet erzeugt ein waches Verlangen, gut zu sein und Gutes zu tun.“
Das ist eins von vielen Erlebnissen, die mir gezeigt haben, dass Beten und Handeln zusammengehören. Gebet verstärkt unser Bewusstsein von dem, was unserer Aufmerksamkeit bedarf, und führt uns zu inspiriertem Handeln. Diese Führung ist sehr individuell, doch wir können einander unterstützen und ermutigen, auch wenn wir selbst anders auf Dinge eingehen. Gebet kann uns dazu führen, uns aktiv an der Arbeit für Lösungen zu beteiligen, die auf lokaler oder nationaler Ebene benötigt werden. Oder es kann uns zu einem bescheideneren Beitrag führen, zum Beispiel, geduldiger und liebevoller mit anderen zu kommunizieren, auch wenn uns mit Aggressivität begegnet wird.
Gebet ist nicht passiv, sondern aktiv und wirksam; es kann zu einem ganz natürlichen Umdenken führen – ja sogar zu völliger Umwandlung – und somit Beziehungen zwischen Einzelnen, Gruppen und Ländern heilen. Es kann uns in unseren Interaktionen mit anderen sehr klar führen und gleichzeitig unser Verständnis der unzertrennbaren Verbindung miteinander als Widerspiegelung des Göttlichen vertiefen. Wenn wir Gott nach dem Weg voran fragen, werden wir alle aus den sterblichen und begrenzten Konzepten über uns und einander herausgehoben und erlangen das Verständnis von unserem wahren Selbst als Söhne und Töchter Gottes. Damit haben wir aktives Gebet. Und das heilt.
