Viele sind mit Christi Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn vertraut, das im 15. Kapitel des Lukasevangeliums erzählt wird (siehe Vers 11–32). Es handelt von einem jungen Mann, der sein Erbe einfordert und auch erhält, seinen Vater und älteren Bruder zurücklässt und von dannen zieht, um ein neues, verschwenderisches Leben zu führen. Nachdem er alles verprasst hat, geht er in sich und beschließt, seinen Vater um Erlaubnis zu bitten, als Knecht zurückzukehren. Sein Vater ist ein herzensguter Mensch, der seinem Sohn erst das Erbe auszahlt und ihn dann mit offenen Armen wieder aufnimmt, nicht als Knecht, sondern als geliebten Sohn. Er veranstaltet sogar ein Willkommensfest für ihn.
Ich lernte als Kind in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft von diesem Gleichnis und hatte am Verhalten des Vaters einiges auszusetzen. Seine Güte und Großherzigkeit passten nicht zu meinem begrenzten Verständnis von Verantwortung und Fairness. Und auch der andere Sohn beschwert sich (zurecht, wie ich fand), dass er nie etwas Besonderes bekommen hat, obwohl er seinen Vater nicht verlassen hatte. Wieso wurde das nun seinem Bruder zuteil? Jesus gibt die Worte des älteren Sohnes so wieder: „Sieh, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich sein könnte.“ Ich war ganz auf seiner Seite.
Mit elf benutzte ich bei einer Auseinandersetzung mit meiner Mutter einmal ein ähnliches Argument. Meine Freunde bekamen fast alle mehr Taschengeld als ich, und das fand ich unfair. Also nahm ich mir die Logik des älteren Bruders zum Vorbild und erklärte, dass ich weniger Schwierigkeiten machte als andere und trotzdem weniger Taschengeld bekam. Das beeindruckte meine Mutter kaum. Was wohlhabendere Nachbarn taten, war für eine Witwe mit drei Kindern unerheblich. In dem Wunsch, mein Argument zu kräftigen, schlug ich die Geschichte vom verlorenen Sohn nach und fand etwas Überraschendes. Der Vater antwortet sehr liebevoll auf die oben zitierte Beschwerde des älteren Sohnes: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.“ Mir wurde bewusst, dass ich alles hatte, was ich brauchte, und es erschien mir nie wieder richtig, dieses Argument zu verwenden.
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