Christian Science heilt körperliche Leiden mit dem Verständnis, daß Krankheiten einen mentalen Ursprung haben und daß das Gesetz des Geistes Gottes dieselben zerstört. Je nach dem geistigen Verständnis des Heilers und der Aufrichtigkeit des Patienten wird die Heilung mehr oder weniger gründlich, sicher und rasch zur Verwirklichung kommen. Dann und wann kommt es vor, daß sich gewisse Formen der Disharmonie immer wieder zeigen. Es gibt sogar gute Scientisten, die im Heilen bei anderen großen Erfolg haben, die aber selbst lange Zeit mit irgend einer körperlichen Erscheinung der Disharmonie kämpfen. Fast in jedem derartigen Fall wird der Grund in gewissen Eigenheiten des Temperaments oder des Charakters zu finden sein, und es ist dann geistige Entwickelung und geistiges Wachstum nötig, um dem Bewußtsein die Kraft und das Gleichgewicht zu geben, welche zur Erlangung und Erhaltung der Gesundheit so nötig sind.
Das störende Element besteht vielleicht in einer geheimen Neigung, einem unentdeckten Fehler; oder es existiert ein Mangel in irgend einem wichtigen Punkt. Je edler der Charakter und je feiner die Empfindbarkeit, desto schärfer wird der Betreffende Störungen empfinden, falls es in seinem Bewußtsein einen Punkt gibt, der seiner Norm, seinem allgemeinen Zustand der Harmonie nicht entspricht. Oft entdeckt ein solcher erst nach langem Leiden, welche Seite seines Charakters sich entwickeln muß, damit in seinem Bewußtsein Harmonie und Gleichgewicht, und dadurch seine Gesundheit hergestellt werden möge.
Des Apostels Paulus ofterwähnter Pfahl im Fleisch scheint ein treffendes Beispiel eines solchen Zustandes zu sein. Welcher Art diese physische Äußerung war, wissen wir nicht; man kann sich aber denken, wie demütigend es für den Apostel gewesen sein muß, stets der höhnischen Bemerkung ausgesetzt zu sein: „Arzt, hilf dir selber!” Er gibt uns keine nähere Auskunft über sein Leiden; jedoch sagt er uns — wenn wir etwas zwischen den Zeilen lesen —, welche Punkte wir zwecks Erlangung körperlicher Gesundheit befestigen müssen. Nachdem er von der wunderbaren und unaussprechlichen ihm zuteilgewordenen Offenbarung der Wahrheit gesprochen hat, schreibt er weiter: „Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal den Herrn geflehet habe, daß er von mir wiche; und er hat mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne.”
Hieraus ist ersichtlich, wo der Punkt in des Apostels Bewußtsein war, an welchem leicht Störungen eindringen konnten, falls derselbe nicht bewacht und mit der Kraft Gottes befestigt wurde. Daß er, der nicht einmal ein Jünger Jesu gewesen war, solch ein erstaunliches Maß der geistigen Erkenntis und Macht erhalten hatte, setzte ihn der heimlichsten aller Versuchungen aus, die den Menschen befallen können, nämlich der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit. Man bedenke ferner, daß seine Erziehung und seine früheren Erfahrungen sehr dazu angelegt waren, diese Schwäche zu begünstigen. Er war als ein Pharisäer erzogen worden. Der Ernst, die Selbstverleugnung und der Gehorsam gegen die zehn Gebote, welche dem aufrichtigen Anhänger dieser Sekte eingeprägt wurden, bildeten eine herrliche Grundlage zu einem christlichen Charakter, insofern sie von dem Christus-Geist erleuchtet wurden. Aber neben diesen Eigenschaften entwickelte sich auch die Lieblingssünde des Pharisäers: die Selbstgerechtigkeit. Solcher Art war das Bewußtsein des Apostels Paulus, als ihm auf dem Wege nach Damaskus das helle Licht erschien; eine solche Persönlichkeit erhielt später die herrlichen Offenbarungen der Dinge, „die kein Mensch sagen kann.”
Bis diese eine tiefeingewurzelte Neigung ganz abgelegt war, befand sich begreiflicherweise ein störender Ton in der geistigen Harmonie, die das Bewußtsein des Apostels erfüllte. Nur die Entwickelung und Veredlung des Charakters infolge geistigen Wachstums konnte diesen Fehler berichtigen. Das primitive und tiefliegende fleischliche Element mußte der völligen Selbstlosigkeit und dem wahren Bewußtsein des Christusmenschen weichen. Solch ein Werk, das bis in die geistigen Tiefen einer Person wie Paulus eindringen muß, kann nicht in einem Augenblick vollbracht werden. Ohne Zweifel gelang es ihm mit der Zeit, und er hätte wohl in späteren Jahren von seinem Sieg und seiner Freiheit berichten können. Bis dahin war ihm das störende Element in seinem physischen Dasein eine beständige Mahnung, daß er all seine Gedanken mit der hohen Offenbarung in Übereinstimmung bringen müsse. In der Erfüllung dieser Aufgabe erhielt er den fortwährenden Beweis, daß Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist, daß Seine Gnade vollständig genügt. Auch unserer Zeit dient der Pfahl im Fleisch zur wichtigen Lehre.