Als Jesus einstmals auf dem Ölberg saß, kamen seine Jünger zu ihm und fragten ihn: „Welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft?” Sie hatten keinen Begriff von dem „fortwährenden Kommen des Christus” („Science and Health“, S. 230), sondern erwarteten ein aufsehenerregendes Wiedererscheinen ihres Meisters — ein äußeres Zeichen, welches das materialistisch gesinnte Volk wider dessen Willen überzeugen sollte. Trotz aller Unterweisung, welche die Jünger von Jesu erhalten hatten, wurde es ihnen schwer (wie es auch uns heute noch schwer wird), die große Tatsache zu erfassen, daß die Wahrheit stets gegenwärtig ist, daß das Reich Gottes im Bewußtsein ist, gemäß der Aussage Jesu bei einer andern Gelegenheit: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe, hie, oder: da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.” Es war ihnen noch nicht klar geworden, daß das Reich Gottes nicht durch untätiges Warten verwirklicht wird, sondern durch geduldiges und unablässiges Bestreben, im eignen Bewußtsein das falsche Denken durch richtiges Denken zu ersetzen.
Auf das 24. Kapitel des Evangeliums Matthäus, in welchem obige Frage der Jünger verzeichnet ist, folgt eine Anzahl sehr bedeutungsvoller Gleichnisse. Ein jedes derselben ermahnt und ermutigt zu ernster Arbeit, zu beständiger Wachsamkeit und zu geduldigem Warten. Es ist in denselben von keinem „siehe hie” und „siehe da” die Rede, sondern wir werden fortwährend darauf hingewiesen, daß ein jeder von uns durch richtiges Denken und richtiges Handeln sein Seelenheil ausarbeiten muß, um das Reich Gottes auf diese Erde zu bringen. Die klugen Jungfrauen füllten ihre Lampen tagtäglich mit Öl, damit sie auf das Kommen des Bräutigams vorbereitet sein möchten. Der getreue Knecht, möge er viel oder wenig erhalten haben, benützte das ihm anvertraute Gut jeden Tag, um es bis zur Rückkehr seines Herrn zu vermehren. Die jenigen, die auf das jüngste Gericht warteten, speisten die Hungrigen und kleideten die Nackenden in täglichem liebevollen Dienste.
Die Gleichnisse sind für uns bestimmt. Das Licht der Wahrheit ist uns erschienen und wir sind von dessen Glanz geblendet worden, wie Parzival von dem heiligen Gral. Doch wie er, so finden auch wir die Wahrheit erst dann, wenn wir sie im täglichen Leben durch rechtes Denken und Handeln praktisch bewiesen haben. Die Christian Science ist nicht gekommen, um die Welt mit einem Schlage zu bekehren. Sie überzeugt die Welt vor allem durch den reinen Lebenswandel ihrer Anhänger. Mrs. Eddy sagt in „Science and Health“ (S. 514): „Fleiß, Bereitwilligkeit und Ausdauer ... tragen das Gepäck des festen Entschlusses und halten Schritt mit dem höchsten Zweck”. Wie leicht ist es uns doch geworden, im Licht der von uns erkannten Wahrheit jenen „höchsten Zweck” zu erfassen, und wie ungeheuer schwierig ist es für uns gewesen, den „festen Entschluß” samt seinem Gepäckzug des Fleißes, der Bereitwilligkeit und Ausdauer gleich schnell folgen zu lassen!
Einen kürzeren und leichteren Weg zur Wahrheit gibt es nicht. Wir dürfen nicht vom vorgeschriebenen Wege abkommen. Ein jeder von uns muß Schritt für Schritt, Tag für Tag das Seinige dazu beitragen, das Reich Gottes auf diese Erde zu bringen. Hierzu ist Geduld nötig; aber Geduld im Sinne der Christian Science bedeutet nicht jene verdrießliche, untätige Unterwerfung, wie viele Menschen denken. Vielmehr äußert sie sich als ein unerschütterlicher Mut, der von dem Gefühl der Freude nicht getrennt werden kann — als ein tätiges Warten auf Erfolg. Die klugen Jungfrauen sangen ohne Zweifel bei ihrer täglichen Arbeit, denn sie waren fest überzeugt, daß der Bräutigam kommen würde. Die Knechte kauften und verkauften mit größter Umsicht, weil sie das Lob ihres Herrn mit Gewißheit erwarteten. Diejenigen, welche die Kranken besuchten und ihnen einen Becher kalten Wassers gaben, taten es mit Freuden, weil sie wußten, daß sie damit der Wahrheit dienten. Nicht ein einziger von ihnen glaubte damit ein großes Werk zu tun; und doch trug ein jeder dazu bei, durch seine geduldige treue Tagesarbeit das Reich Gottes auf diese Erde zu bringen.
Manche gebildete Menschen denken, die Besserung der menschlichen Gesellschaft könne nur durch Umsturz herbeigeführt werden. Wenn sie sich aber nach dem Umsturz an die Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft machen, finden sie, daß dieselbe doch wieder aus Einzelwesen besteht. Wenn nun nicht jeder Einzelne in dem neuen System gelernt hat, daß das Leben geistig und nicht materiell ist, und wenn nicht ein jeder in Gedanken und Taten die „Frucht ... des Geistes” anstatt der „Werke des Fleisches” hervorbringt (und Paulus nennt sie in seinem Brief an die Galater sehr deutlich), so ist das Himmelreich dadurch nicht näher gekommen, weder für die Reichen noch für die Armen. Das Himmelreich ist „inwendig”; dessen Verbreitung in der Welt wird durch dessen Wachstum „inwendig”, d. h. im individuellen Bewußtsein bedingt.
Es ist ein herrlicher Gedanke, daß wir durch unser tägliches Bestreben, jede falsche Vorstellung aus dem Bewußtsein zu entfernen und in der Liebe, Sanftmut und Wachsamkeit zu wachsen, dazu beitragen, das Reich Gottes näher zu bringen! So ist es aber. Nur dadurch, daß der Einzelne die Wahrheit erkennt und anwendet, wird das Gebet erhört: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.”
