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Wie wir vergessen sollen

Aus der September 1911-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Zu den Werkzeugen, die ein Mensch in seiner geistigen Werkstatt zur Ausgestaltung einer gediegenen Laufbahn braucht, gehört ein gutes Gedächtnis. Gleich andern Werkzeugen rostet dasselbe, wenn man es nicht gebraucht, bleibt aber bei richtiger Anwendung blank. Für jene begabten Leute, deren Geist (um mit Byron zu sprechen), Eindrücke wie Wachs aufzunehmen und wie Marmor festzuhalten vermag, ist das Behalten ein ebenso natürlicher und müheloser Vorgang, wie das Sprechen und Atmen. Viele der geistig hervorragendsten Menschen haben diese Gabe besessen, während andre sich ihre Gedächtniskraft durch geistige Arbeit, die den körperlichen Übungen des Athleten an Strenge nichts nachgab, erworben haben. Herrscht doch allgemein die Annahme, daß das Gedächtnis durch geistige Übung ebenso entwickelt werden könne, wie Muskelkraft durch Turnen.

Der französische Philosoph und Gelehrte Pascal soll sein Gedächtnis durch langjähriges Studium dermaßen gestärkt haben, daß er jedes beliebige Kapitel aus der Bibel hersagen konnte. Bacon, dessen Gedächtnis Macaulay (der selbst ganze Bücher nach zweimaligem Durchlesen hersagen konnte) als geradezu phänomenal bezeichnete, sowie auch Milton, Scott und später Gladstone besaßen alle ein außerordentliches Gedächtnis. Eine so ungewöhnliche Fähigkeit ist zwar selten, doch ist es jedermann gegeben, sein Gedächtnis zu stärken. Er muß sich nur in der rechten Weise an seine Aufgabe machen und es an der nötigen Ausdauer nicht fehlen lassen. Zur Übung des Gedächtnisses sind viele Methoden ausgedacht worden; dieselben können aber den Christian Scientisten nicht locken, denn er besitzt in der Betätigung seiner Religion ein Mittel, das sie alle in den Schatten stellt. Durch sein tägliches Streben, die Unendlichkeit und Allmacht des Geistes (Mind) zu beweisen, stärkt er sein mentales Rüstzeug und steigert seine Fähigkeit, Eindrücke zu empfangen und festzuhalten. In „Science and Health“ lesen wir auf Seite 128: „Eine Kenntnis der Wissenschaft des Seins entwickelt die schlummernden geistigen Anlagen und Möglichkeiten des Menschen.”

Kein Christian Scientist braucht ein schlechtes Gedächtnis zu haben, vorausgesetzt, daß er den Wunsch nach einem guten Gedächtnis hat und sich in scientifischer Weise an die Erlangung eines solchen machen will. Hat er es aber einmal auf diesem Wege erlangt, so erweist es sich als eine einzigartige und unschätzbare Fähigkeit. Das durch die Christian Science neugestaltete und entwickelte Gedächtnis besitzt eine ebenso wundervolle wie seltene Eigenschaft: es vermag diejenigen Eindrücke, deren Haften vom übel wäre, rasch zu verwischen und die guten Eindrücke um so besser festzuhalten. Am schwersten lassen sich Erinnerungen an Umstände und Erlebnisse verbannen, von denen wir stark berührt worden sind. So kann es vorkommen, daß wir einen jüngst erhaltenen Freundschaftsbeweis vergessen, während wir vielleicht Eindrücke, welche durch Haß, Neid, Habsucht, usw. hervorgerufen wurden, wochen- und monatelang mit uns herumtragen. Wohl mag ein Mensch einsehen, daß es töricht, ja verwerflich ist, Kummer und Kränkungen, Fehler und Fehlschläge immer wieder durchzudenken; doch hindern ihn zwei Dinge am Vergessen: seine Unfähigkeit und seine Unwilligkeit in dieser Hinsicht.

Der Christian Scientist, dem am Fortschritt gelegen ist, muß sowohl vergessen wie im Gedächtnis behalten können. Die edle Kunst, Schädliches zu vergessen, eignet man sich jedoch nicht durch bestimmte vorgeschriebene Maßregeln oder durch Willenskraft an. Sie beruht entweder auf einer natürlichen Fähigkeit, oder muß durch die Christian Science erworben werden. Denken wir z. B. an einen erfahrenen Chemiker, der hundert verwickelte Formeln spielend im Kopfe behält, dem es aber allen Bemühungen zum Trotz nicht gelingt, die ihm bei Gericht, wo er zum Zeugen aufgerufen wurde, von einem verschlagenen Juristen öffentlich zugefügte Beleidigung zu vergessen. Gar oft hört man die mit einem Gefühl der Selbstrechtfertigung ausgesprochenen Worte: „Vergeben kann ich schon, aber nie vergessen!” Durch die Christian Science lernen wir, daß es kein wahres Vergeben ohne bereitwilliges Vergessen geben kann. Zu einem vollen Vergeben gehört nicht nur das Überwinden des Gefühls des Gekränktseins, sondern auch das Entfernen der Beleidigung aus dem Gedächtnis. So kann sich z. B. der Chemiker eine Zusammensetzung von Bestandteilen merken, die angeblich ein bestimmtes Resultat ergibt. Durch Versuche überzeugt er sich aber, daß dasselbe nicht eintritt. Die Formel muß daher falsch, unwirklich sein. Von dem Augenblick an betrachtet er sie nur noch als eine Täuschung, eine Nichtigkeit, die des Behaltens nicht wert ist; er verbannt sie aus seinem Gedächtnis oder vergißt sie. Wenn er die Unwirklichkeit der ihm öffentlich zugefügten Beleidigung ebenso leicht erkennen und somit vergessen würde, so könnte sie ihm keinen Kummer verursachen. Das Gedächtnis nährt sich von den Begebenheiten und Eindrücken aus der Wirklichkeit oder aus dem für wirklich Gehaltenen, während es die Erinnerung an Trugerscheinungen, die sich ihm deutlich als solche darstellen, bereitwillig aufgibt.

Der Christian Scientist kommt bald zu der Erkenntnis, daß die eine große Täuschung im sterblichen Dasein in dem Glauben besteht, daß das Böse wirklich sei. Wenn er diese Täuschung als solche erkannt und das wirkliche Bestehen des Guten bis zu einem gewissen Grade werktätig bewiesen hat, vermag er die Erinnerung übler und unwirklicher Erfahrungen aus seinem Gedächtnis zu entfernen. Auf diese Weise wird er sich manches Leiden ersparen, das durch Enttäuschung, Empfindlichkeit, Sorge und so vieles andre verursacht wird und sich bei ihm festzusetzen sucht. Die durch Erfahrung gesammelten Lehren sind jedoch keineswegs umsonst. Aus einer jeden müssen wir den vollen Nutzen gezogen haben, ehe wir die Wandtafel abwischen, um eine neue Aufgabe zu beginnen. Wie das Stück Kreide, das eine Aufgabe angeschrieben hat, als Staub weggewischt wird, so müssen auch die schädlichen Begebenheiten in unsrer Erfahrung, nachdem wir die nötigen Lehren aus denselben gezogen haben, auf immer aus unserm Denken ausgeschieden werden. Unsre Betrachtungen sollten gründlich sein und zu einem bestimmten Resultat führen. Von Lord Bacon stammt der Ausspruch, daß die Menschen nur ihre Treffer verzeichneten, niemals ihre Fehlschüsse. Wenn man sich also in der Kunst des Vergessens üben will, so tut man wohl daran, der Fehlschüsse nur so lange zu gedenken, bis man gelernt hat, wie man künftighin Treffer machen kann.

Zur Veranschaulichung wollen wir einmal annehmen, der erwähnte Chemiker hätte einiges Verständnis von der Christian Science erlangt und bestrebe sich, dasselbe in seinem täglichen Leben anzuwenden. Er wird wiederum vor Gericht geladen. Diesmal tritt er bereitwillig auf den Zeugenstand und hofft, vermöge seiner elementaren Kenntnis von der Christian Science die Probe bestehen zu können, ohne sich verletzt zu fühlen. Die scharfen Angriffe des Juristen verwunden ihn aber ebensosehr wie früher, und niedergeschlagen, verdrießlich und mutlos geht er nach Hause. Fast will es ihm scheinen, als würde die Christian Science überschätzt, als versage sie in solchen Fällen. Er hält aber bald seine aufrührerischen Gedanken fest und beginnt eine ernstliche Selbstprüfung, denn er hat in seinem Beruf gelernt, daß die richtige Anwendung einer Regel nicht minder wichtig ist, wie die Kenntnis derselben.

Er nimmt „Science and Health“ zur Hand, um zu sehen, woran er es hat fehlen lassen, und bald erkennt er, daß er sein Denken hätte zuvor befestigen sollen, um der mesmerischen Atmosphäre im Gerichtssaal entgegenwirken zu können. Er erkennt, daß auch in der Christian Science der Spruch gilt: „Besser bewahrt als beklagt.” Ferner findet er, daß das Lesen von Mrs. Eddys Worten über das Gefühl des Beleidigtseins („Taking Offense“, („Miscellaneous Writings“, S. 223) für ihn von Vorteil gewesen wäre, und daß eine halbe Stunde stiller Andacht und Gemeinschaft mit dem unendlich Guten ihm bei seinem Bestreben, die Allmacht und Allgegenwart, die Liebe, die Vaterschaft Gottes und Brüderschaft der Menschen klar zu erkennen und die Wirklichkeit des Übels zu verneinen, zugute gekommen wäre, so wirklich und mächtig der durch die Ereignisse entstehende und dieselben begleitende Mesmerismus auch scheinbar gewesen war. Hiernach hätte er beim Betreten des Gerichtssaales Liebe gegen Gott und den Menschen ausgestrahlt, hätte nach der Verhandlung ruhig und gelassen sich entfernen können. Er hatte aber die Rüstung vorher nicht angelegt und erhielt daher eine Wunde, die geheilt werden mußte.

In seiner Religion findet er den heilenden Balsam, und bald ist kaum noch eine Narbe zu sehen, wo vordem Mitleid mit sich selbst, Zorn und Haß an ihm genagt, ihn gebrannt und geschmerzt hatten. Er hat die Falschheit und Nichtigkeit dieser Gedankenzustände bewiesen und darf von nun ab vergessen, daß er selbst zeitweilig ihr Opfer war. Er vergißt das Übel, merkt sich aber die Lehre, daß man stets wachsam und bereit sein muß. Später fällt sein Blick wohl auf den Umschlag des „Sentinel“, und ihm scheint als vernehme er laut das darauf stehende Motto: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!” Durch das allmähliche Erlangen eines besseren Verständnisses von Gott — dem einen vollkommenen und unbegrenzten Geist (Mind)— werden seine geistigen Fähigkeiten und sein Gedächtnis erweitert und gestärkt.

Niemand braucht sich von der Christian Science wegen seiner Vergangenheit fernzuhalten, wenn er die Vergangenheit gerne hinter sich lassen möchte. Die Christian Science fragt ihn nicht: „Wie steht’s mit deiner Vergangenheit?”, sondern: „Wie steht’s mit der Gegenwart?” Nicht: „Was hast du getan?”, sondern: „Was bist du bereit zu tun?” Sie spioniert nicht in der Vergangenheit eines Menschen herum, der „ein reines Herze” und „einen neuen und gewissen Geist” haben möchte. Alles, was er aus früheren Tagen mitzubringen braucht, ist das Gute, das sie ihm gebracht haben und die Lehren, die er erhalten hat. Fehler, Mißerfolge, Sorgen, Leiden, Tränen und erlittenes Unrecht läßt er „dahinten”, und er muß sie dahinten lassen, wenn er vorwärts kommen will. Wie mit dem Unrecht der Vergangenheit, so verhält es sich mit dem Unrecht eines jeden Tages. Man muß es dahinten lassen. Dieses Dahintenlassen oder Vergessen beruht jedoch nicht auf einem schlechten, sondern auf einem guten Gedächtnis, d. h. auf einem Gedächtnis, das das Gute festhält und das Schlechte fallen läßt. Vielleicht erhalten wir von einem lieben Freund einen Brief, in dem er Vorwürfe äußert und uns tadelt, weil wir uns der Christian Science zugewandt haben. Den Brief wollen wir nicht noch einmal lesen, sondern schleunigst verbrennen. Mehr lieben wollen wir den Freund und den Brief auf immer vergessen. Er ist „dahinten”.

Angenommen, ein Kaufmann macht sich Sorge darüber, was wohl das Ergebnis eines fast zum Abschluß gebrachten Geschäftes sein werde. Wenn seine Beweggründe einwandfrei gewesen sind, kann er sein Gefühl der Besorgnis mit Gleichmut vertauschen, indem er sich bewußt wird, daß in der Science jedes richtige Bestreben seinen Teil Gutes in das Reich menschlicher Erfahrung bringt. Er soll nur fortfahren, vertrauensvoll sein Bestes zu tun und die Sorge dahinten zu lassen, wo sie ihm nichts anhaben kann. Erfolg und Sorge sind keine Reisegefährten.

Wir wollen ferner annehmen, ein ausübender Vertreter sieht nicht die gewünschte Besserung in dem Befinden seines Pflegebefohlenen. In diesem Fall tut er wohl daran, vor allen Dingen nach der Ursache in sich selbst zu suchen, und wenn er sie gefunden hat, sie dahinten zu lassen. Er muß der Liebe in seinem Bewußtsein mehr Raum gewähren und von neuem beginnen. Wird ein Mensch mutlos, weil sein Fortschritt in der Science langsam zu sein scheint und alles grau und trübe aussieht, so sollte er bedenken, daß Entmutigung eine Torheit ist. Sie schließt Gott aus unsern Gedanken aus und gewährt einer Horde von Übeln Einlaß, die niemals ohne unser Mitwirken ins Bewußtsein dringen könnten. In solchem Fall sollte man an die empfangenen Wohltaten denken und recht dankbar sein. Vergessen sollte man, daß man sich je dem Gefühl der Entmutigung hingegeben hat. Wer aufrichtig sucht, wird reichlich Ursache zur Dankbarkeit finden.

Entmutigung ist umso unheilvoller, weil sie gewöhnlich als unschädlich angesehen wird. Der Fabel zufolge heißt es, der Teufel habe eines Nachts einen Verkauf veranstaltet und alle seine Werkzeuge jedem angeboten, der nur seinen Preis zu zahlen bereit war. Sie lagen alle zum Verkauf aus. Auf den Etiketten stand „Haß”, „Neid”, „Krankheit”, „Sinnlichkeit”, „Verzweiflung”, „Verbrechen” usw.— kurzum, es gab da eine bunte Auswahl. Abseits lag ein unschädlich aussehendes, keilförmiges, mit der Aufschrift „Entmutigung” versehenes Werkzeug. Es war sehr abgenutzt, im Preise aber höher als alle andern, wurde also offenbar von seinem Besitzer besonders geschätzt. Als der Teufel nach dem Grund gefragt wurde, erklärte er: „Ich kann es eben leichter handhaben als alle andern, denn so wenige Leute wissen, daß es mir gehört. Ich kann damit Türen öffnen, an denen ich mit den andern nicht einmal zu rütteln vermag, und bin ich einmal drinnen, so suche ich mir von meinen übrigen Werkzeugen das passendste aus.”

Das Vergessen dessen, was dahinten ist, ist keine neuentdeckte Grundbedingung zum geistigen Fortschritt, sondern es geht auf die ersten Anfänge des Christentums zurück, da Paulus es seinen Mitarbeitern in Philippi in unzweideutigen und überzeugungskräftigen Worten anempfahl. Man muß sich wundern, warum die Kirche des modernen Zeitalters sich gar nicht an diese Ermahnung gekehrt hat. Die Christian Science läßt konservative, dogmatische Anschauungen und Überlieferungen dahinten. Auf ihrem Banner steht das Wort Fortschritt. Der Lebenslauf der berühmten Entdeckerin und Begründerin der Christian Science liefert ein prägnantes Beispiel fortschrittlicher Gesinnung. Nie ließ sie die Wolken des gestrigen Tages die Morgenröte des kommenden trüben. Mit vorwärts gerichtetem Blick eilte sie dem vorgesteckten Ziel entgegen, ohne zurückzublicken, um die getanen Schritte zu zählen. Dies machte ihr den Weg weniger beschwerlich. (Siehe „Science and Health“, S. 426.) Zu Zeiten ist ihr Pfad rauh und dornenbesät gewesen, aber auf ihrer ganzen ereignisreichen Reise haben ihre Fußtapfen vorwärts gewiesen, und ihre Schritte sind auch in den dunkelsten Nächten oder an den stürmischsten Tagen niemals vom geraden und schmalen Weg des Fortschritts — vom Gesetze Gottes — abgewichen. In ihrem Leben sind die folgenden Worte des Apostels Paulus am schönsten veranschaulicht worden: „Eines aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage nach dem vorgestecktem Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.”

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