Jesus sagte einstmals zu Pilatus: „Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll.” Dazu sind alle Christen in die Welt geboren. Ein jeder kann und soll, wie der Meister, ein Zeuge für die Wahrheit sein. Nun übersteigen aber die Errungenschaften eines Menschen nicht leicht sein Streben. Streben wir danach, wahre Zeugen zu sein? Wenn dies der Fall ist, so werden wir uns auf den starken Schwingen des Glaubens erheben, in das geistige Reich der Wirklichkeit eintreten und die Höhe unsres Strebens demonstrieren.
Die Macht, die unser großer Wegweiser über alle Erscheinungsformen des Übels ausübte, erklärt sich daraus, daß er nie etwas Geringeres sein wollte als ein Zeuge für die von ihm klar erkannte Allmacht Gottes; daß er sich nie durch Furcht oder Zweifel davon abhalten ließ, seines Vaters treuer, gehorsamer und tätiger Zeuge zu sein. Er vergaß nie die Tatsache, die wir so ost vergessen, daß die Heilkraft dem Prinzip, nicht der Person innewohnt; daß der Christliche Wissenschafter nichts weiter zu tun hat, als zu allen Zeiten und unter allen Umständen die Allgegenwart und Unendlichkeit des Guten getreulich zu bezeugen. Wie Jesus, unser Wegweiser, so wollen auch wir nicht mehr, aber auch nicht weniger tun als uns auf die Fähigkeit des Geistes, jede Erscheinungsform des Übels zu verbannen, felsenfest zu verlassen. Dieses Vertrauen können wir nur dann erlangen, wenn wir einsehen, daß wir wohl die uns zugewiesene Aufgabe erfüllen müssen, daß aber Gott unsre Kraft und Stärke ist. Nur der wahre, nach dem Ebenbild Gottes geschaffene Mensch empfindet dieses Vertrauen.
Christus Jesus ließ sich nie vom Irrtum erschrecken. Was dem sterblichen Sinn der Leute um ihn her wie ein Unglück vorkam, erkannte er als eine Gelegenheit, die Gegenwart und Macht der göttlichen Liebe zu beweisen. Je größer das scheinbare Übel, desto größer die Gelegenheit. Es war dem Meister einerlei, ob eine hungrige Menge, ein Sturm, ein Besessener, ein sündiges Weib, oder das Grab seines Freundes ihm diese Gelegenheit bot. Es blieb sich für ihn ganz gleich, ob er das Zinsgeld, einen Saal zur Feier des Passahmahles, Weisheit den Pharisäern gegenüber, oder ein hinreichendes Maß der edelsten aller Eigenschaften, der Feindesliebe, nötig hatte. Er wußte, daß alle Versorgung im göttlichen Gemüt reichlich vorhanden ist. Er verließ sich demutsvoll auf den göttlichen Quell, und derselbe erwies sich ihm in allen Fällen als unfehlbar.
In dem Maße, wie wir uns über die erhabene Wirklichkeit des Guten freuen erkennen wir das Übel mehr als eine verneinende Nichtsheit, denn als einen Fehler. Für den irdischen Zeugen Gottes, dessen Bewußtsein erleuchtet ist, ist das Übel eine Herabsetzung Gottes und zugleich eine Herabsetzung des Menschen. Indem er das Übel von Gott trennt, muß er es auch von Gottes Geschöpfen trennen. Wenn immer der Irrtum ihm entgegentritt, muß er ihn mit der auf den betreffenden Fall bezüglichen Wahrheit umkehren. Jesus bewies, daß die göttliche Macht stets in dem Augenblick zur Hand ist, in dem man sich an sie wendet. Er wußte, daß Leben, Wahrheit und Liebe allgegenwärtig und ewig sind, und daß deshalb die Begriffe Zeit, Ort und Übel weichen müssen. Er behandelte jeden Irrtum als den subjektiven Zustand des sterblichen Gemüts, als eine Fata Morgana, eine Umkehrung der geistigen Tatsachen, die unveränderlich und ewig sind.
Jesus ging nicht zum Grabe seines Freundes Lazarus, um einen Menschen zu erwecken, den er für tot hielt, sondern um die Tatsache zu bezeugen, daß, weil Gott lebt, der Mensch nicht sterben kann. Er war sich klar bewußt, daß die ganze geistige Schöpfung zugleich mit dem Schöpfer besteht, und daß die Allgegenwart des Lebens die Gegenwart des Todes ausschließt. Daher versuchte er nicht, den Tod zu heilen, sondern er wies ihn als einen Irrtum zurück und überwand ihn dadurch. Kein irdisches Ereignis konnte diesen Zeugen täuschen, der den Geist „ohne Maß” hatte, und der danach trachtete, sowohl gegen Gott, wie gegen den Menschen Treue zu beweisen; denn das eine schließt das andre in sich. Ohne Zweifel erreichte er diesen Höhepunkt dadurch, daß er sich oft an einen stillen Ort zurückzog, um mit dem Quell der geistigen Wirklichkeit in Verbindung zu treten, bis sein Bewußtsein hell erleuchtet war und er bewußterweise eins war mit dem Quell seines Seins. Aus den folgenden Zeilen Trenchs spricht der Geist des wahren Gebets:
Was ist Gebet, wenn es wirklich Gebet ist?
Die mächtige Äußerung ist’s einer dringenden Not.
Der Mann betet, welcher mit Macht
Heraus aus dem Dunkel zum göttlichen Licht tritt.
Wer Gott in solcher Weise sucht, wird Ihn gewiß finden, denn ist nicht dieses Suchen an und für sich schon eine von Gott eingegebene Tätigkeit? Das geistige Ideal Christi Jesu erhob ihn über den vorherrschenden Glauben an eine Schöpfung, in welcher angenommenermaßen entgegengesetzte Elemente sich vereinigen. Deshalb war er imstande, alle Formen der falschen Annahme als bloße Versuchungen zu erkennen, ihnen mit Erfolg zu widerstehen und sich und andre von denselben zu befreien. Aus den Evangelien ist nicht zu ersehen, daß er sich je dazu verstanden hätte, mit irgendwelchen Formen der falschen Annahme zu kämpfen, als ob sie greifbare Feinde gewesen wären, die aus sich selbst Kraft haben und auf einen Kampf warten.
Geistigkeit ist die offene Tür zum Himmel. Die Christliche Wissenschaft enthüllt uns die Tatsache, daß der geistige Sinn der einzige wahre Zeuge, der fleischliche Sinn der einzige falsche Zeuge ist. Wenn wir suchen, die körperlichen Sinne zum Schweigen zu bringen, anstatt mit den äußeren Erscheinungen des Übels zu kämpfen, wenn wir der Wahrheit mehr Aufmerksamkeit schenken und uns weniger mit dem Irrtum abgeben, und wenn wir erkennen, daß wir nicht „mit Fleisch und Blut” zu kämpfen haben, sondern nur mit dem allgemeinen Aberglauben, daß Fleisch und Blut über Gesundheit und Leben des Menschen verfügen kann, dann werden wir in unsrer Arbeit Erfolg haben.
Auf diese richtige Art des Heilens weist Mrs. Eddy mit folgenden Worten hin: „Wenn du den Zeugen, der gegen deine Verteidigung auftritt, zum Schweigen bringst, zerstörst du den Augenschein, denn die Krankheit verschwindet” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 417). Mit andern Worten: der wahre Zeuge gibt nicht zu, daß es in Wirklichkeit irgend etwas zu heilen gibt; denn wenn er die Allgegenwart und Allmacht des Guten behauptet, behauptet er damit nicht die Ohnmacht jeder Erscheinungsform des Übels? Sucht er sich nicht zu vergegenwärtigen, daß es buchstäblich nichts gibt, was sich seiner Demonstration widersetzen, sie verzögern, oder sie verhindern könnte? Wir dürfen auf unsrer Suche nach Wahrheit nicht müde werden, denn nur wenn wir uns der geistigen Wirklichkeit bewußt werden, können wir den Irrtum verscheuchen. Deshalb sollen wir nicht die Finsternis zu ergründen suchen, sondern das Licht, nicht den Schein verfolgen, sondern die Wirklichkeit.
Im ersten Jahrhundert bewirkte das göttliche Gemüt große Taten durch Christus Jesus — Taten, die die Christen des zwanzigsten Jahrhunderts für höchst wunderbar halten, und von denen sie denken, sie könnten in unsrer Zeit nicht wiederholt werden. Die Wunder der Vergangenheit heilen jedoch keineswegs die Übel unsrer Zeit. Die geistige Macht hat auch heute noch erleuchtete menschliche Zeugen nötig, um sich als Erlöser kund zu tun. Die Schriftgelehrten im Tempel wunderten sich über die geistige Frühreife des Jesusknaben, die er durch seine weisen Fragen und Antworten kundtat. Hätten sie erkannt, daß seine Weisheit nicht persönlicher Art war, sondern vom himmlischen Vater kam, dann würden sie sie auch zum Ausdruck gebracht und Gott die Ehre gegeben haben. Sie würden die Werke getan haben, die Jesus tat. Die ganze Bibel bezeugt die Kraft Gottes. Die Wirkung dieser Kraft wird immer mehr offenbar. Sie heilt auch in unsern Tagen die Herzen, in denen das inspirierte Wort Eingang gefunden hat. Die göttliche Botschaft an die Christenheit lautet: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen, und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.”
Im gegenwärtigen Zeitalter hat eine edle Frau, Mrs. Eddy, diese Stimme gehört, worauf sie die Tür öffnete, um die frohe Botschaft zu empfangen — die Botschaft der Befreiung von Krankheit und Sünde und schließlich auch vom Tode. Sie widmete ihr ganzes Leben dem Forschen in der Bibel, verfolgte die Fäden der Wahrheit im alten Testament, fand sie im neuen Testament zu starken Schnüren verbunden, und warf dann in dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, das geistige Rettungstau aus, welches den Menschen dazu verhilft, schon hier auf Erden den Hafen des Friedens und der Harmonie zu erreichen. Als sie die wesentliche Wahrheit, die den Worten und Werken des Meisters zugrundelag, erkannt hatte, behielt sie die ihr gewordene Offenbarung nicht für sich, sondern war ein treuer Zeuge für dieselbe.
Als Ergebnis dieser Treue wird die göttliche Mahnung: „Ihr aber seid meine Zeugen, spricht der Herr”, immer mehr beachtet. Individuelle Tätigkeit und Hingabe verbreitet die Segnungen der Christlichen Wissenschaft über die ganze Erde. In immer weiteren Kreisen erreicht das stille Wirken des Wortes, das keine Grenzen kennt, die empfänglichen Herzen und befreit sie von ihrer Last. Der mentale „Weg” wird in dem Verhältnis erkannt, wie die Tätigkeit des Materialismus einem Mitleid weicht, das werktätig ist, weil ihm die göttliche Liebe zugrundeliegt. Der Christliche Wissenschafter muß vor allem selbstlos sein. Ferner darf er sein geistiges Pfund nicht vergraben, sondern muß es durch Demonstration vermehren. Er darf nie vergessen, daß, wenn er wie Christus Jesus zum Wohl andrer arbeitet, er am allergewissesten sein eignes geistiges Wohl fördert.
Wenn wir in den Fußtapfen des Meisters wandeln wollen, so ist es nicht genug, daß wir auf einsamer Stube die Christliche Wissenschaft studieren, sondern wir müssen auch durch ihre Ausübung unserm Mitmenschen das grausame Joch der Furcht und Sorge, der Sünde und Krankheit abnehmen. Nur die falsche Annahme hat dieses Joch auferlegt, und nur die Liebe, die sich in Liebe wiederspiegelt, kann es entfernen. Unser Zeitalter hat viel empfangen, deshalb wird viel von ihm gefordert. Als Christliche Wissenschafter lernen wir vor allem Gott und den wahren Menschen erkennen. Sodann werden wir auf die Pflicht hingewiesen, dieser Erkenntnis gemäß zu reden und zu handeln. Unsre Führerin sagt uns auf Seite 1 von Wissenschaft und Gesundheit, daß wir nur durch Beten, Wachen, Arbeiten und Beweise der Selbstlosigkeit Erfolg haben können.
Zu allen Zeiten sind Gebete für die Kranken verrichtet worden, aber diese Gebete haben meist eine Beimischung von Unglauben gehabt; sie sind mit der festen Überzeugung beschwert gewesen, daß die Übel, von denen man befreit zu sein wünschte, wirklich seien. Als Christliche Wissenschafter müssen wir uns von jedem Aberglauben frei machen, der unsern Glauben trüben und unsre Erwartungen beschränken möchte. Wir müssen stets auf der Hut sein, damit wir nicht etwas, was keine Widerspiegelung Gottes ist, als wahr anerkennen und dieses vermeintliche Etwas dann zu heilen suchen. Wir müssen erkennen, daß es in Wirklichkeit nichts gibt, was der Heilung bedarf; andernfalls werden wir leicht von Furcht vor Mißerfolg und von einem Gefühl des Belastetseins befallen. Ferner müssen wir uns vergegenwärtigen, daß es in der Wahrheit keine Furcht gibt, und daß weder Sünde, noch der Urteilsspruch der Arzneimittellehre für das göttliche Prinzip einen Schrecken haben.
In dem Gebot: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten”, wird uns in noch andrer Weise gezeigt, was damit gemeint ist, ein treuer Zeuge zu sein. Unser Nächster ist mehr als ein materielles Wesen; unser Nächster ist stets der geistige Mensch. Es ist daher notwendig, die Wahrheit für die Menschheit im allgemeinen, wie für den einzelnen zu behaupten — für die Weltprobleme, wie für die persönlichen Bedürfnisse. Ob wir nun an andre Menschen oder an uns selbst denken: wir müssen stets behaupten, daß es nur den geistigen Menschen gibt, dessen Harmonie nie gestört ist, weil er stets das göttliche Gemüt widerspiegelt. Dieser Nächste darf erwarten, daß wir seine Gotteskindschaft behaupten, die Wirklichkeit der Sünde leugnen und im Stillen für eine jetzige universelle, geistige Vollkommenheit zeugen. In dem Maße, wie wir diese Pflicht gegen den „Nächsten” erfüllen, werden wir sie gegen die Menschheit im allgemeinen erfüllen. Wenn der Christliche Wissenschafter gemäß den falschen Zeugen, körperliche Sinne genannt, an das Lager eines kranken Sterblichen tritt, so tut er es, um dem geistigen Menschen Treue zu beweisen; um sich der geistigen Wirklichkeit, die hinter dem Schein liegt, bewußt zu werden; um bestimmt zu behaupten, daß der Irrtum dem Menschen ebensowenig anhaften kann, wie Gott.
Diese christlich-wissenschaftliche Behauptung der Allgegenwart des Guten müssen wir dadurch vervollständigen, daß wir sogar den Schein der Disharmonie oder Krankheit in Gottes Schöpfung in Abrede stellen. Als Gottes geistige Zeugen müssen wir bei einem Krankheitsfall nicht nur die scheinbare Disharmonie verneinen, sondern wir müssen auch die Annahme widerlegen, daß Leben oder Gesundheit von der Materie abhängig sei. Nie dürfen wir vergessen, daß jedesmal, wenn wir einen Irrtum in Gedanken halten oder zum Ausdruck bringen, wir die Wahrheit leugnen, denn eine Bejahung des Übels bedeutet eine Verneinung des Guten. Da nun eine Lüge nicht wirken kann, es sei denn durch einen Lügner, so müssen die Menschen sich weigern, eine Lüge zu denken oder auszusprechen. Dadurch beweisen sie, daß das Übel eine Nichtsheit ist. Die Christliche Wissenschaft steckt uns nicht nur ein hohes Ziel, sondern sie lehrt uns auch, wie wir es erreichen können. Das Erkennen der positiven Natur des Guten und der negativen Natur des Übels ist eine individuelle Erfahrung; es ist das Kommen des Christus, das uns die Elemente der Freiheit von Furcht und Sünde, Krankheit und Tod bringt. Außerhalb des rechten Denkens ist keine Freiheit, innerhalb desselben keine Knechtschaft.
Durch die treue Arbeit der also Erleuchteten hat sich bereits eine ansehnliche Schar von rechten Denkern gebildet, die stetig wächst und an Einfluß gewinnt. Die Zahl dieser treuen Zeugen wird mit der Zeit so groß werden, daß das Licht der Wahrheit das ganze menschliche Bewußtsein durchfluten und die Dämmerung dem nie endenden Tag weichen wird. „Da wird keine Stacht sein.” Die falschen Zeugen werden mit der mentalen Finsternis, der Unwissenheit und dem Aberglauben verschwunden sein, und ein jeder wird mit Christus Jesus den Titel teilen, den ihm der Apostel Johannes in der Offenbarung gibt: „Der treue Zeuge und Erstgeborne von den Toten.”
Verlagsrecht, 1913, von The Christian Science Publishing Society
