Um das Gebot Jesu zu befolgen: „Sei willfertig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist”, muß man dessen Bedeutung klar erfaßt haben. Vor allem ist der Zusammenhang dieser Worte mit dem Vorhergehenden zu beachten. Jesus hatte einen scharfen Verweis gegen diejenigen ausgesprochen, die sich in ihrem Umgang mit den Mitmenschen vom Zorn oder Unwillen hinreißen lassen. Dann sagte er, wenn wir unsre „Gabe auf dem Altar” opferten, d.h. wenn wir uns mit unsern Gedanken geistigen Dingen zuwendeten, und es uns dabei einfalle, daß wir uns mit einem Mitbruder entzweit haben, so sollten wir uns sofort mit ihm aussöhnen und dadurch unsre Liebe gegen die Menschen bekunden, ehe wir behaupteten, Gott zu lieben. Hierauf folgt die obenerwähnte Stelle. Bei ihrer näheren Betrachtung drängen sich uns zwei Fragen auf: Wer ist unser „Widersacher”, und wie sollen wir ihm „willfertig” sein?
Wissenschaft und Gesundheit definiert den Begriff Widersacher als „jemand, der sich widersetzt, der leugnet, streitet” (S. 580). Unser Widersacher ist einer, der uns zuwiderhandelt, oder dem wir zuwiderhandeln. Wer auch immer oder was auch immer unserm Interesse widerstreitet, unsern Fortschritt hindert oder unser Wohl gefährdet, ist ein Widersacher. Ein Widersacher ist jedoch nicht immer ein Feind, wohingegen ein Feind immer ein Widersacher ist. Ich brauche nicht notwendigerweise mit einem, der sich mir widersetzt, in Feindschaft zu leben. Irgendein Mensch wird für mich zum Widersacher, wenn ich ihn als einen solchen betrachte. Daher ist mein Widersacher irgend etwas, von dem ich denke, daß es sich mir widersetzte, mich hindre oder mir Schaden zufüge. Der Schritt zur Versöhnung ist deshalb nötig, weil ich „eingedenk” bin oder denke, daß mein Bruder etwas wider mich habe. Ich muß ihn mir als einen Widersacher gedacht haben, sonst hätte ich nicht das Empfinden, daß er mir feindlich gesinnt sei. Wenn er nichts weiß von dem Unrecht, das ich ihm angetan habe, oder von dem Grund, warum ich ihn als meinen Widersacher ansehe, dann besteht der Zwist allein in meinem Bewußtsein. Seine Unwissenheit ändert jedoch nichts an der Sache, noch befreit sie mich von meiner Pflicht, mich auszusöhnen. Es schließt dies natürlich nicht die Möglichkeit aus, daß mein Widersacher schuld hat; d. h. seiner Handlungsweise mag ein irriger Gedanke zugrundeliegen. Wie kann ich nun willfertig sein, ohne den Irrtum zu entschuldigen oder mir den Schein zu geben, als ob ich ihm beistimme?
Das griechische Wort eunoio, welches in der deutschen Bibel an dieser Stelle mit „willfertig sein” übersetzt ist, bedeutet nicht ein Einräumen oder unterwürfiges Zugeben dessen, was man für falsch oder für fraglich hält. Bemerkenswert ist, daß einer namhaften Bibelkonkordanz zufolge dies die einzige Stelle ist, wo eunoio mit „willfertig sein” übersetzt ist. Es besteht aus zwei Worten: eu = gut, und nous = Sinn, Gesinnung, und hat also die Bedeutung von wohlgesinnt. Die Stelle könnte übersetzt werden: Sei deinem Widersacher wohlgesinnt.
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