Christus Jesus kündigte seine Mission mit folgenden prophetischen Worten an: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbet hat; er hat mich gesandt, zu verkünden das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen, das angenehme Jahr des Herrn.” Dies war also in Kürze der Wille seines himmlischen Vaters, den er nun zur Ausführung bringen wollte. Und sofort ging er ans Werk. Er predigte in ihren Schulen, heilte „allerlei Kranke, mit mancherlei Seuchen und Qual behaftet”, und tröstete auf dem Wege von Ort zu Ort die Mühseligen und Beladenen,
Nur einer, der sanft und liebevoll war, den das ihn umdrängende Volk mit ihrem Kummer und ihrer Not „jammerte”, der den unerschöpflichen Quell geistiger Macht kannte — nur ein solcher konnte diese hohe Aufgabe übernehmen und sie mutig bis zur Vollendung durchführen. Jesus hörte auf den verzweifelten Ruf des Aussätzigen: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen”; auf die demütige Bitte des Blinden: „Herr, daß ich sehen möge”; auf die vertrauensvolle Erklärung des stolzen Hauptmanns: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.” Alle, die gläubig zu ihm kamen, wurden geheilt. Er, der die verborgensten Gedanken lesen konnte, wußte, ob die Menschen krank, hungrig oder bedrängt waren, und konnte aus dem Überfluß in seines Vaters Haus ihre Bedürfnisse befriedigen.
Jeder Nachfolger des Meisters sollte hieraus eine Lehre ziehen. Da der Befehl, die Kranken zu heilen, jahrhundertelang fast gar keine Beachtung gefunden hat, ist es umsomehr die Pflicht der heutigen Christen, ihn auszuführen. Die Kirche Christi, der Scientisten, wurde gegründet, „um das ursprüngliche Christentum und sein verlorenes Element des Heilens wiedereinzuführen” (Kirchenhandbuch, S. 17), und ein jeder ihrer Anhänger ist verpflichtet, Sünde, Krankheit und Tod zu vermindern. „Ihr seid das Licht der Welt”, sagte der Meister. Der Christliche Wissenschafter, der sein Licht in der Finsternis dieser Welt leuchten läßt, und der in seinem täglichen Leben die Liebe wiederspiegelt, die „unendliche Mittel” hat, „mit denen sie die Menschheit segnet” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 60), wird reichlich Gelegenheit haben, die Wahrheit, zu der er sich bekennt, zu demonstrieren.
Die Menschheit lernt immer mehr einsehen, daß ihr in der Christlichen Wissenschaft der ungenähte Rock des „großen Arztes” dargeboten wird; daß diese Lehre sowohl Befreiung von körperlichen Leiden, wie Frieden für das bekümmerte Gemüt bringt. Allerwärts hört man die Frage, die der Kerkermeister an Paulus und Silas richtete: „Was soll ich tun, daß ich selig werde?” Dieser flehentlichen Bitte um Hilfe wird der wahre Christliche Wissenschafter nicht anders als mit Sanftmut und Liebe entgegenkommen. Er hat sich allerdings aus eigner Erfahrung von der Unwirklichkeit der scheinbaren Übel überzeugt. Sie sind für ihn nichts weiter als Annahmen des sterblichen Gemüts, welche beseitigt werden müssen, wenn der Leidende Heilung finden soll. Aber gerade seine persönliche Erfahrung hat ihn gelehrt, mitleidsvoll zu sein. Er weiß, daß diese Täuschungen denen, die die Wahrheit des Seins noch nicht erkannt haben, nur zu wirklich erscheinen, und daß es sein Vorrecht ist, die blinden Augen zu öffnen, damit sie die unendliche Liebe erkennen mögen.
Seitens derer, die eine irrige Auffassung von den Lehren der Christlichen Wissenschaft haben, wird zuweilen behauptet, die Christlichen Wissenschafter ließen die Leiden ihrer Mitmenschen unbeachtet, oder sie ständen denselben gleichgültig gegenüber. Wer nun die Allmacht Gottes, des Guten, und die völlige Nichtsheit der Ansprüche des Übels bewiesen hat — möge sich das Übel als Sünde, oder als Krankheit kundtun —, ist sich bewußt, daß er in der Vergegenwärtigung dieser Allmacht, vor der der Irrtum machtlos ist, ein Mittel gegen jedes Leiden hat. Er weiß, daß die Macht der Wahrheit und Liebe wirksamer ist als alle materiellen Mittel; daß, wenn er auch den menschlichen Sinnen zufolge nichts für den Leidenden tut, er doch gegen die Schar der Übel eine Waffe hat, die „lebendig und kräftig” ist, nämlich „das Wort Gottes”, welches jeden Irrtum berichtigt; daß er Sieger bleibt, wenn er die Furcht überwindet, die das Leiden veranlaßt hat. Obschon er auch nicht für einen Augenblick in Gedanken zugeben darf, daß das Übel, gegen welches er kämpft, wirklich sei, so muß er sich doch andrerseits davor hüten, von dieser Unwirklichkeit in einer Weise zu reden, die der Hilfesuchende und seine Freunde nicht verstehen können. Wenn man einem Menschen, der von Krankheit und Furcht gepeinigt ist, rundweg erklärt, es fehle ihm nichts, so erregt man dadurch jede Faser seines Wesens zum Widerstand. Auf diese Anschauung ist er nicht vorbereitet, denn sie steht in direktem Widerspruch zu den Annahmen, die ihm anerzogen worden sind.
Wenn Jesus nach dreijährigem Umgang mit seinen Jüngern Geduld haben konnte mit ihrem scheinbaren Unvermögen, seine Lehre von des Vaters unendlicher Liebe zu Seinen Kindern in ihrer höheren Bedeutung zu verstehen, und wenn er ihnen einfach sagte: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt’s jetzt nicht tragen”, dann sollten gewiß auch wir mit einem Mitmenschen, der nichts weiß von einem Gott, der nur Liebe ist, nachsichtig sein — sollten seine schwache Hoffnung mit der Erklärung stützen, daß Furcht und Leiden nicht von Gott kommen, wie wirklich sie ihm auch erscheinen mögen, und daß sie durch das Vertrauen auf die Macht der Wahrheit überwunden und ausgetrieben werden können.
Jesus, unser großes Beispiel, stieß diejenigen, die sich um Hilfe an ihn wandten, nicht mit der Bemerkung vor den Kopf, daß ihnen nichts fehle. Vielmehr sagte er: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.” Er war sich der Unwirklichkeit alles dessen, was dem Guten ungleich ist, wohl bewußt, erkannte und befriedigte aber sofort die Bedürfnisse derer, die sich um Hilfe an ihn wandten. Als Christliche Wissenschafter müssen auch wir liebevoll und mitfühlend sein. Wir dürfen den Geist nicht unter dem Buchstaben begraben, sondern müssen dem Hilfsbedürftigen mit jener aufopfernden Liebe entgegenkommen, die ihn nicht losläßt, bis sie ihre Aufgabe erfüllt hat. Wir sollten stets daran denken, daß, wie Mrs. Eddy sagt, „ein freundliches Wort an den Kranken und die christliche Ermutigung desselben, die mitleidsvolle Geduld mit seiner Furcht und deren Beseitigung”— daß ein solches Entgegenkommen das Evangelium des Meisters, „die echte Christliche Wissenschaft ..., die von göttlicher Liebe erglüht”, in die Tat umsetzt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 367).
