Das Gefühl des Grolls oder Beleidigtseins wegen eines tatsächlichen oder vermeintlichen Unrechts ist einer der listigsten Irrtümer, die sich im menschlichen Gemüt versteckt halten. Es ist in vielen Fällen sehr schwer zu erkennen; und hat man es erkannt, dann entschuldigt man es oft unter dem Namen „gerechter Zorn,” oder man behauptet keinen andern Wunsch zu haben, als daß den, der unrecht getan hat, die verdiente Strafe treffe.
Eins unsrer Wörterbücher bestimmt den Groll als „ein Gefühl des Beleidigtseins oder Verletztseins verbunden mit einem Gefühl des Zorns oder Ärgers wegen eines tatsächlichen oder vermeintlichen Unrechts, das einem selbst oder einem Nahestehenden zugefügt worden ist.” Dem Groll kann also eine rein eingebildete Ursache zugrunde liegen. Doch der Gemütszustand desjenigen, der Groll hegt, ist der gleiche, ob nun das Übel, das dieses Gefühl verursacht, wirklich oder eingebildet ist, und somit sind auch die Folgen in beiden Fällen dieselben, nämlich eine nachteilige Wirkung auf das Gemüt und schließlich auf den Gesundheitszustand. Hieraus geht hervor, daß es nichts zur Sache tut, ob wir den ganzen Zustand im Lichte der oben angegebenen Begriffsbestimmung betrachten, derzufolge die Ursache eine tatsächliche oder eine auf Einbildung beruhende sein kann, oder ob wir ihn vom christlich-wissenschaftlichen Standpunkt aus beurteilen, wo die Ursache aller unharmonischen Empfindungen und aller Gefühle des Grolles für unwirklich erklärt wird, denn hier handelt es sich lediglich um die Wirkung auf den, der den Groll sein Denken beherrschen läßt.
Man nehme z. B. einen Fall an, wo ein Mensch den Gefühlen des Zorns nicht Einhalt gebietet, und diese sich so heftig äußern, daß er sich hinreißen läßt, dem Gewalt anzutun, der, wie er glaubt, ihm ein Unrecht zugefügt hat. Solche Fälle werden fast allgemein als höchst beklagenswert angesehen, und bei den meisten rechtdenkenden Menschen erregt das Opfer einer ungezähmten Leidenschaft tiefes Bedauern. Weiß aber ein Mensch seine Gefühle zu beherrschen, so wird sein Unwille, sei er auch noch so heftig, gewöhnlich ganz anders beurteilt; ja Zorn und Empörung über ein angebliches Unrecht werden oft für anerkennenswerte Eigenschaften gehalten, während Ruhe unter solchen Umständen als Feigheit gedeutet wird. Es scheint nicht allgemein erkannt zu werden, daß der innere Haß dem, der ihn hegt, ebensoviel Schaden zufügt wie eine äußere heftige Bekundung. Hieraus ist jedoch nicht zu schließen, daß man ein Unrecht gleichgültig hinnehmen muß oder dem Bösen keinen Widerstand entgegensetzen darf. Im Gegenteil, man soll trachten, es zu überwinden, wo immer es einem begegnet. Dies muß aber stets mit dem Wunsche geschehen, den Unrechttuer auf den rechten Weg zu bringen — ihm zu helfen, die „bösen Geister” auszutreiben und sich aus seinem unglückseligen Zustand zu befreien.
Solange ein Mensch Haß oder Groll im Bewußtsein trägt und die Gelegenheit herbeisehnt, an dem angeblichen Unheilstifter Rache zu nehmen und ihm dasselbe Unrecht zuzufügen, das er durch ihn erlitten zu haben glaubt, genau so lange straft er sich selbst. In „Miscellaneous Writings“ (S. 223) sagt Mrs. Eddy: „Uns wegen der Fehler andrer zu strafen, ist die größte Torheit. Der mentale Pfeil, der von eines andern Bogen abgeschossen wird, ist kaum gefährlich, es sei denn, er finde an unserm eignen Denken einen Widerhaken. Unser Stolz ist es, an dem die Kritik eines andern nagt, unser Eigenwille, der an der Handlung eines andern Anstoß nimmt, unser Egoismus, der sich durch die Anmaßungen eines andern verletzt fühlt. Wohl dürfen uns unsre eignen Fehler schmerzen, doch wäre es gegen uns selber ungerecht, wollten wir wegen der Fehler andrer Leid empfinden. ... Wir sollten uns nur durch unsre eignen Irrtümer beleidigt fühlen. Wer es aber über sich bringt, einen andern wissentlich zu schädigen, hat eher Bedauern als Groll verdient.”
Anstatt unsre Feinde vernichten zu wollen, sollten wir trachten, die Feindseligkeit in unserm Bewußtsein zu vernichten. Ist dies geschehen, dann sehen wir, daß wir keine Feinde haben. Um Gedanken des Hasses zu vernichten, müssen wir sie durch Gedanken der Liebe ersetzen. Dann werden wir unsern Feinden Gutes erweisen, statt ihnen Schaden zufügen zu wollen. Nun entsteht die Frage: Wie können wir unsern Feinden Gutes erweisen, wenn sie allem Anschein nach auf eine Gelegenheit warten, uns aufs neue zu beleidigen und aller Wahrscheinlichkeit nach jedem Versuch unsrerseits, ihnen unser Wohlwollen zu beweisen, verschmähen werden? Über diese Frage dachte ich lange nach, konnte aber zu keinem befriedigenden Schluß gelangen. In der Zwischenzeit hatte ich viel Verdruß gehabt und mich über Zustände tüchtig geärgert, die mir von andern bereitet worden waren und die meine eifrigsten Bemühungen allem Anscheine nach vereitelten und der natürlichen Entwicklung meiner Fähigkeiten hinderlich waren. Die Antwort auf die Frage wurde mir buchstäblich durch eine „Schrift an der Wand” zuteil, und zwar in einer Weise, die einen tiefen Eindruck auf mich machte.
Als ich einst einen Sonntag in Washington verbrachte, benutzte ich die frühen Morgenstunden zu einem Spaziergang in den Anlagen um das Kapitol oder Kongreßgebäude. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, und die Bäume boten in ihrer vielfarbigen Pracht einen wunderbaren Anblick. Ich hatte gehofft, alle Gefühle der Disharmonie hinter mir lassen zu können; aber es wurde mir bald klar, daß sich diese Gefühle durch die Schönheit des Morgens nicht verscheuchen ließen, so sehr ich mich auch bemühte, sie loszuwerden. Mein Spaziergang führte mich am neuen Bahnhof vorbei, und ich blieb an der Frontseite des schönen Baues stehen, um ihn näher zu betrachten und die Feinheit der Einzelmotive zu bewundern. Plötzlich fiel mein Blick auf folgende eingemeißelte Schrift: „Sei edel! Und der Edelsinn, der in allen Menschen schlummert, aber nie tot ist, wird sich majestätisch erheben und dem deinen entgegenkommen.” Auf einem andern Felde, nicht weit darunter, stand das Bibelwort: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.”
Mit fast überwältigender Plötzlichkeit wurde es in mir Licht, und die Herrlichkeit des Tages ward offenbar. „Sei edel!” so lautete die Lehre — sei ein Beispiel des Edelsinns, gleichviel, wer dich sehen oder hören mag, oder wie du anscheinend beurteilt wirst. Sei vorbildlich in deinen Handlungen, gleichviel, ob du in Gegenwart von Freunden oder Feinden bist. Und vor allem, laß deinen inneren Menschen deinem Bewußtsein die Eigenschaften bestätigen, die dein äußerer Mensch deinen Freunden gegenüber bekundet. „Sei edel!” Sei nicht engherzig, sondern barmherzig und versöhnlich. Gib ein Beispiel, dessen Befolgung allen zum Wohle gereicht. Dies ist der Wahrheit gemäß gehandelt, und mit der Kenntnis der Wahrheit wird die Erlösung aus den Fesseln der selbstauferlegten Strafe kommen.
