Die Frage, wie man in der Welt sein kann, ohne von der Welt zu sein, hat religiös gesinnten Menschen von jeher große Schwierigkeit bereitet. Man geht wohl kaum zu weit mit der Erklärung, daß der Weg der Weltgeschichte mit dem oft recht schönen Mosaik vereitelter Bemühungen gepflastert ist — Bemühungen, zwei offenbar unvereinbare Gesichtspunkte zu vereinigen. Viele Menschen, die den ernsten Wunsch gehabt haben, ein religiöses Leben zu führen, sind durch den Umstand, daß sie in ihrem Kampf ums Dasein keinen festen Standpunkt finden konnten, zur Verzweiflung gebracht und in die Wüste, ins Irrenhaus und zu allerlei Extremen getrieben worden.
Im Mittelalter, als die Hauptbeschäftigung eines Edelmanns darin bestand, seines Nachbarn Vieh zu rauben und alles, was er nicht wegtragen konnte, zu zerstören, bot das Kloster den nach Gerechtigkeit Dürstenden fast die einzige Zufluchtsstätte. Wir brauchen jedoch nur die Chroniken dieser Anstalten zu lesen, um zu sehen, wie wenig sie dem geistigen Ideal, dem sie ihre Existenz verdankten, gerecht wurden. Die Reformation, deren Bestreben es war, alle Mißstände zu beseitigen, brachte nicht die Lösung des Problems; sie änderte nur dessen Form. Von Hieronymus und dem heiligen Augustin bis zur Zeit Graf Zinzendorfs und der Brüdergemeinde bekämpfte die „Welt” den Versuch, das geistige Ideal in der materiellen Welt aufrecht zu erhalten. Mit dem Dahinscheiden des Gründers einer Religionsbewegung ging auch das Ideal selbst in der allgemeinen materiellen Geistesrichtung unter.
Heute stehen die Christlichen Wissenschafter vor der gleichen Schwierigkeit. Wie können sie in der Welt leben, ohne sich dieser Welt gleichzustellen? Wie müssen sie ausgerüstet sein, um den Kampf zu gewinnen, den die Nachfolger der andern Systeme verloren haben? Um über diesen wie über viele andre Gegenstände Aufschluß zu erlangen, wendet sich der Christliche Wissenschafter an die Bibel, besonders an die Lehren Jesu; und da muß es ihm auffallen, daß der Meister fast gar nichts Bestimmtes über die Trennung von der Welt gesagt hat. Wohl die einzige Ausnahme bilden die Worte im siebzehnten Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Übel.” Und doch ist aus den Bedingungen, die Jesus an diejenigen stellte, die seine Jünger sein wollten, klar ersichtlich, daß er nichts Geringeres als vollständige Selbstverleugnung gegenüber der Welt verlangte. Obgleich er aber zur Erwerbung des Eintrittsrechtes in sein Reich die größten Anforderungen stellte, so lebte er doch wie andre Menschen. Er nahm an ihren Festen und Mahlzeiten teil, wohnte in ihren Häusern, sprach mit ihnen und besuchte ihre Synagogen — kurz, er war einer der Ihrigen.
Wir finden ferner, daß die Apostel, wenn sie nicht mit dem Meister auf Reisen waren, sich oft ihrem ursprünglichen Beruf zuwandten. Weder in den Evangelien noch in den Episteln wird verlangt, daß sich die Christen äußerlich absondern sollen. Diese Ansicht scheint erst in der Mitte des dritten Jahrhunderts aufgekommen zu sein. Wir sehen also, daß Jesus und seine unmittelbaren Nachfolger ein Verständnis des Prinzips besaßen, welches es ihnen ermöglichte, in der Welt zu sein, ohne sich ihr gleichzustellen, und daß dieses Verständnis später verloren ging.
Jesus besaß und lehrte seine Jünger die Erkenntnis wahrer Werte. Mit Bestimmtheit und ganz unwillkürlich unterschied er zwischen Wahrem und Unwahrem, und die Möglichkeit, sich zu irren, bestand für ihn nicht. Von diesem Standpunkte aus wurden besondere Anweisungen nicht als notwendig erachtet. Sobald der Jünger Jesu Lehre versteht, findet er die Lösung von selber. Deshalb erkannte Mrs. Eddy die Scheidelinie zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen. Nachdem sie ungefähr vierzig Jahre lang in der Welt und für die Welt eifrig gearbeitet hatte, konnte sie als wahre Seherin und Prophetin sagen: „Diese Zeit-Welt flattert in meinen Gedanken umher wie ein unwirklicher Schatten” („The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany,“ S. 268). Die Erkenntnis wahrer Werte ist das Ergebnis eines beweisbaren Verständnisses von Substanz. Jeder Christliche Wissenschafter muß sich diese Erkenntnis aneignen und sie auf sich selbst und im Umgang mit andern anwenden.
Der Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft hat gewöhnlich in dieser Hinsicht keine Schwierigkeit. Seine Begeisterung ob der neuen Entdeckung und vielleicht auch etwas Furcht, dieselbe zu verlieren, veranlassen ihn, gegenüber seinen alten Gewohnheiten und Freunden, ja sogar gegenüber seiner früheren Beschäftigung, entschieden Stellung zu nehmen. Bald aber werden seine Anschauungen nüchterner, und es fängt dann die ernste Arbeit an, die auf dem wahren Begriff des Lebens beruht, nämlich, zu jeder Zeit bestrebt zu sein, in geistigen Werten zu denken, während man es scheinbar mit materiellen Werten zu tun hat — sich harmonisch in einer von Sterblichen bewohnten Welt zu bewegen, und trotzdem den Unterschied zwischen dem Wahren und dem Unwahren stets klar vor Augen zu haben. Dieses Bewußtsein der Vollkommenheit besaß Jesus, und er erwartete es von seinen Jüngern, obschon er sich einer andern Ausdrucksweise bediente. Die wahre und beweisbare Auslegung seiner Worte und Werke läßt dies klar erkennen. Auch die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft hatte dieses Bewußtsein, und sie verlangt es von allen ihren Nachfolgern.
Solange man nicht einigermaßen einsehen gelernt hat, mit welcher Leichtigkeit sich das menschliche Gemüt betrügen läßt oder sich selbst betrügt, kann man dieses gewünschte Bewußtsein nicht erlangen; denn kaum wendet man sich dem Feind nach rechts zu, so greift er einen schon von links an. Das Gesicht in der Offenbarung von den vier Tieren um den Stuhl ist von tiefer Bedeutung. Die Tiere waren „voll Augen vorne und hinten,” d. h. sie besaßen jenes geistige Erkennen, das alles Übel sofort aufdeckt.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich mit einem gemischten Gefühl von Heiterkeit und Mitleid der Kämpfe einer langjährigen Freundin, die eine zahlreiche Familie in dem Glauben großgezogen hatte, daß nur strenggläubige Protestanten in den Himmel kommen könnten. Als sie dann aber ihren Lieblingssohn verlor, welcher allen Glauben an Religion über Bord geworfen hatte, sah sie sich genötigt, die Himmelstür zu erweitern, damit ihr Sohn Einlaß finden könnte. Sie löste die scheinbar unmögliche Aufgabe zu ihrer vollen Zufriedenheit! Tritt nun nicht auch an die Christlichen Wissenschafter die Versuchung heran, das Prinzip zu Gunsten ihrer Lieben auszudehnen, d. h. von gewissen Forderungen des Prinzips abzusehen und ein „Laß-es-jetzt-also-sein” eintreten zu lassen? Haben wir nicht alle versucht, dies zu tun?
Für die meisten Menschen bedeutet der Ausdruck „die Welt” jene Seite des menschlichen Lebens, die dem Vergnügen, der Gesellschaft usw. gehört. In diesem Sinne ist eines jeden Menschen Welt der Ausdruck seiner eignen individuellen Neigungen, und es bewahrheitet sich sehr oft der Spruch: „Des einen Brot ist des andern Not.” Von welcher Richtung auch die Versuchung kommen möge, sich der Welt gleichzustellen, wir können darauf rechnen, daß, wie Mrs. Eddy sagt, „die Natur des einzelnen, starrsinniger als die Umstände, sich selbst das Wort reden wird — seinen Gewohnheiten, seinem Geschmack und seinen Schwächen” („Miscellaneous Writings.“ S. 119). Welcher Art die „Welt,” in der sich ein Mensch befindet, auch sei, es gibt gewisse allgemeine Verhältnisse, welche der ganzen Menschheit gemein sind und welche die Christlichen Wissenschafter beeinflussen, sich den allgemein herrschenden Ansichten unterzuordnen, Böses zu tun, um Gutes zu erreichen, kurz, sich selbst untreu zu werden.
Auf Seite 253 und 254 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy, Vollkommenheit sei die Forderung der Christlichen Wissenschaft; es werde jedoch nicht mehr von einem Menschen verlangt, als er ehrlicherweise, ob schnell oder langsam, vollbringen könne, und Entmutigung sei deshalb unbegründet, auch wenn das zu erreichende Ziel noch weit in der Ferne liege. Die Hauptsache ist, das Ziel vor Augen zu behalten und alles zu tun, was einen demselben näher bringt.
Wer vermöge der Erkenntnis seines wahren Ich weder von Triumph noch von Unglück beeinflußt wird, kann sein Haupt zu den Sternen erheben, denn seine Füße ruhen da, wo Jesus Christus stand, als er sagte: „Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, sondern was er siehet den Vater tun; und was derselbige tut, das tut gleich auch der Sohn.” Er erkennt in metaphysischer Weise die richtigen Werte und geht seines Wegs, „nicht dieser Welt gleich,” sondern, wie Paulus sagt, erneuert im Geiste des Gemüts.
