Im ersten Kapitel des ersten Buchs Mose lesen wir, daß Gott das Wesen aller Seiner Ideen bestimmte, ihnen Namen gab und dann sah, daß sie „sehr gut” waren. In der Allegorie im zweiten Kapitel nun gibt Adam allen Geschöpfen Namen, und zwar bezeichnen diese Namen Eigenschaften, die im göttlichen Schöpfungsplan keinen Raum haben. Von diesem falschen, materiellen Gesichtspunkt aus sind Irrtümer aller Art, wie Krankheiten und Verbrechen, benannt und in Klassen eingeordnet worden.
Die Neigung des menschlichen Gemüts, die als Krankheit zum Ausdruck kommenden unharmonischen Zustände einzuteilen und zu benennen, ist beinahe ebenso schlimm wie die Krankheit selbst. Sie ist das Ergebnis der falschen Methode, nach welcher die Menschheit auferzogen wird. Namen von Krankheiten bedeuten also Gedankenbilder, welche Furcht, Leiden und Tod umfassen.
Als Kind bereitete es mir viel Vergnügen, an regnerischen Tagen, wenn mir die Zeit lange wurde, den Kalender, der an der Küchenwand hing, herunterzunehmen und die Beschreibung der verschiedenen Krankheiten durchzulesen. Ich war zu naiv, um zu bemerken, daß die Heilung aller erwähnten Beschwerden einzig von der Anwendung des Heilmittels abhing, wofür der Kalender eine Reklame war, und es bereitete mir eine Art melancholische Befriedigung, mir einzubilden, daß ich den Keim zu wenigstens mehreren dieser gefürchteten Krankheiten in mir berge, da ich glaubte, die meisten der genannten Symptome schon an mir selbst beobachtet zu haben. Nur diejenigen Übel, die entweder ganz kleinen Kindern oder alten Leuten zugeschrieben waren, wurden von mir als meine Leistungsfähigkeit übertreffend erkannt!
Daß ich ein kränkliches Mitglied einer kränklichen Familie war, brauche ich nicht erst zu erwähnen. Verschiedene Hausmittel wie auch die Mittel eines praktischen Arztes wurden beständig angewandt. Der häufige Gebrauch dieser Hausmittel bewirkte, daß sich jedes Familienmitglied als einen erfahrenen Diagnostiker betrachtete, und ich stand im Stolz über solche Weisheit niemandem nach, Weisheit, vermöge derer ich die Krankheit, die mich in ihren Klauen hielt, sofort zu erkennen und ihr den richtigen Namen zu geben vermochte. Und im Verlauf der Jahre kam eine Krankheit nach der andern hinzu. Aber Medizin, kostspielige Behandlung durch Spezialärzte, Reisen, Beobachtung von Gesundheitsregeln, menschliche Willenskraft — alles ließ mich im Stich. Erst als ich alle Hoffnung aufgegeben hatte, je wieder froh und glücklich zu werden, lenkte ich meine müden, zaghaften Schritte der Christlichen Wissenschaft zu, wo mir dann auch Hoffnung, Trost und Heilung an Leib und Seele zuteil wurde. In der Tat fand ich da „den Morgenstern,” und zum erstenmal wurde mir der Wert des Lebens klar; ja noch mehr, ich kam zu der Erkenntnis, daß wir alle das Leben mit jedem Tag reicher und wertvoller gestalten können.
Einige Jahre nach meiner ersten Heilung durch die Christliche Wissenschaft von einem angeblichen schweren Herzleiden wurde ich plötzlich schwer krank. Ich schien mich nicht aufraffen zu können, um meine eigne mentale Arbeit zu tun. Als ich so von Fieber und Schmerz geplagt darnieder lag und einen ausübenden Vertreter der Christlichen Wissenschaft um Beistand gebeten hatte, verfiel ich unversehens in meine alte Gewohnheit, den Namen meiner Krankheit festzustellen. Bald jedoch kam ein besserer Gedanke, und ich sah ein, daß ich nichts andres tat als mich selbst zu verurteilen, wie Mrs. Eddy auf Seite 391 von Wissenschaft und Gesundheit erklärt, und daß ich mir den Weg nach einer andern Daseinsstufe selbst bahnte. Der Name an und für sich hatte nichts zu bedeuten, wohl aber mein Glaube an ihn und die Furcht, die er mir einflößte.
Dann erinnerte ich mich des Falls eines Bekannten von mir, der gerade diesem Irrtum zum Opfer gefallen war. Er lag krank darnieder, und obschon er kein Christlicher Wissenschafter war, wandte er sich doch nach dieser Richtung um Beistand, denn er hatte die heilende Wirkung der Christlichen Wissenschaft an seinem Sohne beobachten dürfen. Sein Zustand war höchst bedenklich, aber durch die Arbeit der Praktikers trat bald eine Besserung ein, er befand sich außer Gefahr, ja die Funktionen des Körpers waren beinahe normal. Nun wollte der Mann auf einmal den Namen seiner Krankheit wissen. Der ausübende Vertreter kannte das Leiden wohl, hielt es aber für ratsam, es dem Patienten gegenüber nicht zu nennen. Natürlich stand es diesem frei, einen Arzt zu Rate zu ziehen, und dies tat er auch, obwohl ihm seine Frau davon abriet und ihm erklärte, er wäre nicht imstande, die Furcht, welche die Aussagen des Arztes in ihm hervorrufen könnten, zu überwinden. Darauf erwiderte er, es sei ihm nur um eine Diagnose zu tun, und er werde keine Medizin einnehmen.
Ein Arzt wurde gerufen, und es traf sich, daß dieser nicht gut auf die Christliche Wissenschaft zu sprechen war. Der Zustand des Patienten war ihm erklärt worden, und er betrat das Krankenzimmer in einer nichts weniger als wohlwollenden und hilfreichen Stimmung. Nach der Untersuchung setzte er sich ans Bett, erklärte dem Kranken, er habe Lungenentzündung, befinde sich in einer kritischen Lage und werde, wenn er die Medizin nicht einnehme, die „lange Reise” antreten müssen; ja möglicherweise sei es ohnehin schon zu spät. Man braucht kein großer Psychologe zu sein, um sich die Wirkung solcher Worte auf das Gemüt eines Menschen, der eben eine schwere Krankheit durchgemacht hat, vorstellen zu können. Voller Angst bat er den Arzt, ihm die lebensrettende Medizin zu geben. Durch die Erzeugung von Furchtvorstellungen ging alles, was gewonnen war, in zwei Stunden wieder verloren. Es trat sofort eine Temperatursteigerung ein, die vom medizinischen Standpunkt aus als kritisch betrachtet wird. Beim Einbruch der Nacht suchte der Arzt die Wirkung dieser großen Furcht durch eine Einspritzung zu beschwichtigen. Sofort verfiel der Patient in einen Zustand der Betäubung; er hörte auf zu husten, und noch vor Tagesanbruch war er dahingeschieden — und nur, weil er den Namen der Krankheit hatte wissen wollen.
Dieses Falles also erinnerte ich mich, als ich selbst krank darnieder lag. Nun sah ich vor mir den Abgrund, welchem mich meine Furcht und meine alte Gewohnheit entgegenführten. Ich raffte mich zusammen, und der Glaube, daß ich nicht imstande sei, meine eigne mentale Arbeit zu tun, verließ mich. Mit großem Nachdruck sagte ich mir: „Was auch der Name der Krankheit sein mag, sie ist eine Lüge, nichts mehr und nichts weniger, und deshalb brauche ich weder ihr noch irgend etwas, was mit ihr zusammenhängt, Glauben zu schenken.” Da ich wußte, daß die Krankheit eine Lüge war, konnte ich sie sofort verneinen; hätte ich jedoch geglaubt, ich leide an einer bestimmten Krankheit, so hätte ich auch glauben müssen, daß sie gewisse Stadien — Entwicklung, Höhepunkt, Abnahme usw.— durchmachen müsse. Ich sah ein, daß ich es nicht nötig hatte, mit einer Lüge zu unterhandeln oder dem Richterspruch des sterblichen Gemüts, das über die Dauer meiner Gefangenschaft und die Art meiner Strafe verfügen wollte, mich bereitwillig zu fügen. Wie noch nie zuvor wurde mir die Tiefe der in dem „mentalen Gerichtsfall” enthaltenen Wahrheiten klar. (Siehe Wissenschaft und Gesundheit, SS. 430–442.)
Die Wahrheit wirkt immer erweckend, und mein Fall machte keine Ausnahme, denn schon am nächstfolgenden Tage war ich auf und besorgte meinen Haushalt wie gewöhnlich. Was war denn aus der schlimmen Krankheit geworden? Sie war auf ihre „natürliche Nichtsheit” zurückgeführt worden (Wissenschaft und Gesundheit, S. 91). Hätte ich dem unharmonischen Zustand einen Namen gegeben und darüber nachgegrübelt, so wäre das Ergebnis jedenfalls anders gewesen.
Wie mit Krankheitsnamen, so verhält es sich mit allen andern Namen, die Disharmonie und Furcht bedeuten: sie verlieren alle Macht gegenüber dem, der in das Wesen der Christlichen Wissenschaft eindringt und sie gewissenhaft betätigt.
Wer gute Taten hat vollbracht,
Dem wird der dunkle Pfad erhellt,
Die ganze Erd’ ein Demantschacht,
Zum Freunde ihm die ganze Welt.
