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Praktiker und Patient

Aus der Mai 1916-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft haben oft einen etwas unklaren Begriff von der wahren Aufgabe eines christlich-wissenschaftlichen Praktikers. Die alten Ansichten über die Arzneimittellehre und die Ärzte bieten keinen Ausgangspunkt zur richtigen Beurteilung des Metaphysikers und seiner Arbeit, denn medizinische Theorien und Verfahrungsarten stellen sich bei der Heilung und Verhütung von Krankheit offen auf die Seite der Materie. Dem Gemüt schenken sie keine Achtung, außer insoweit es ihnen vom Körper abhängig zu sein scheint. Die Metaphysik nun, mit der Lehre Jesu übereinstimmend, sorgt nicht für den Körper, sondern befaßt sich mit dem Gemütszustand, der die Krankheit erzeugt, und wendet sich um Verhütung sowohl wie um Heilung an das göttliche Gemüt. Dem gegenüber ist die Arzneimittellehre ausgesprochen irreligiös, denn ihre Ausübung verlangt keine christlichen Eigenschaften.

Sowohl der Ausgangspunkt als die Verfahrungsart dieser beiden Systeme ist grundverschieden. Während der Mediziner mit der scheinbaren Wiederherstellung des normalen Zustandes des Körpers zufrieden ist und es dabei bewenden läßt, erblickt derjenige, der sich der metaphysischen Methode bedient, im Gesunden des Körpers das Ergebnis eines mentalen Wechsels. Er sucht jene sittliche Besserung herbeizuführen, ohne die es keinen wahren metaphysischen Erfolg gibt. Daraus ist ersichtlich, daß keine Verwandtschaft besteht zwischen dem Praktiker der Christlichen Wissenschaft und dem Mediziner, und es dürfte deshalb für den Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft von Nutzen sein, ihm die Tätigkeit des Praktikers, sein Verhältnis zum Patienten und des Patienten Verhältnis zu ihm in etwas auseinanderzusetzen.

Im sechzehnten Kapitel der Apostelgeschichte lesen wir von einem bemerkenswerten Vorfall während der Amtstätigkeit des Apostels Paulus. Es heißt da: „Paulus erschien ein Gesicht bei der Nacht; das war ein Mann aus Mazedonien, der stund und bat ihn und sprach: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!” Paulus gehorchte diesem Ruf sofort, denn er war „gewiß, daß [ihn] der Herr dahin berufen hätte.” Er ging hin, erfüllte seine Aufgabe als Helfer und hinterließ unverwischbare Spuren christlichen Heilens von Sünde, Krankheit und Tod. Gerade wie damals ist auch heute der mazedonische Hilferuf aus dem Chaos des menschlichen Lebens zu vernehmen. In den Worten des Dichters:

Von unserm Bruder kommt der bange Schrei:
Bringt Hilfe, unser Götze ist entzwei!

In der Christlichen Wissenschaft ist jedermann sein eigner Arzt, und die Praxis ihrer Anhänger besteht in dem unablässigen Bestreben, alles, was dem Wesen Gottes, des Guten, nicht entspricht, aus ihrer Gedankentätigkeit fernzuhalten. Allgemein gesprochen entspringt das Bedürfnis nach Hilfe einer Trübung des geistigen Ausblicks. Diese Trübung läßt die großen Tatsachen des Seins, ihren wohltätigen Einfluß, ihre Immergegenwärtigkeit und Beständigkeit, nicht erkennen, was zur Folge hat, daß man nicht imstande ist, die Heilkraft des Christus, der Wahrheit, zur Geltung zu bringen. Ein solcher mesmerischer Zustand kann von großen Schmerzen, von Niedergeschlagenheit oder von irgendeinem unharmonischen Körperzustand begleitet sein, so daß eignes wirksames Beten unmöglich zu sein scheint. Die Notwendigkeit, diesen Mesmerismus zu brechen, liegt auf der Hand, und der Ruf nach Hilfe ist instinktiv. Hier erinnern wir uns der Ermahnung Mrs. Eddys auf Seite 420 von Wissenschaft und Gesundheit: „Wenn Schüler sich nicht selbst schnell heilen, dann sollten sie beizeiten einen erfahrenen Christlichen Wissenschafter zur Hilfe rufen. Wenn sie nicht willens sind, dies für sich zu tun, brauchen sie nur zu wissen, daß der Irrtum einen solchen unnatürlichen Widerstand nicht hervorbringen kann.”

Wiewohl wir jederzeit das Recht und die Pflicht haben, in Zeiten der Not die Dienste eines Praktikers in Anspruch zu nehmen, so müssen wir dock gleichzeitig erkennen, daß keine falsche Denkweise uns veranlassen kann, Arbeit, die uns von Rechts wegen zufällt, einem andern zuzuschieben und von ihm verrichten zu lassen. Ein solches Verfahren ist nichts andres als ein Versuch, der Aufgabe, das eigne Heil auszuarbeiten, aus dem Wege zu gehen. Es mag Fälle geben, wo der Patient seine eignen Bemühungen unterlassen und die Arbeit gänzlich dem Praktiker überlassen muß; aber in der Regel sollte der Praktiker mehr ein Mithelfer sein. Sowohl der Patient als der Praktiker muß auf die Erkenntnis der Wahrheit hinarbeiten. Das Erkennen der Wahrheit über irgendeinen Zustand kann als die einfachste Definition einer christlich-wissenschaftlichen Behandlung betrachtet werden.

Auf den freigeborenen Mazedoniern lastete das römische Joch sehr schwer, gerade wie die fleischlichen Vorstellungen den freien Gedanken unterdrücken und in Banden halten. Aber dem aufmerksamen Ohr eines Paulus entgeht ein Hilferuf nie; sein klarer Blick wird von keinem mesmerischen Einfluß getrübt, wie dies beim Patienten der Fall ist. Gott wirkt für den Menschen durch den Menschen. Der Patient muß das Vertrauen haben, daß der richtige Praktiker zur Hand ist. Es gibt keinen Fall, der nicht durch den Beistand eines Praktikers geheilt werden könnte, und dieser Praktiker ist zu finden. Hat man einmal die Wahl getroffen, und die verrichtete Arbeit weist nicht den gewünschten Erfolg auf, so sollten die gegenseitigen Beziehungen zwischen Praktiker und Patienten nicht als unauflöslich betrachtet werden. Es ist nicht immer leicht, bestimmte Regeln aufzustellen; aber allgemein gesprochen darf der Praktiker in einem solchen Fall, d. h. wenn keine vollständige Heilung erlangt wird oder wenigstens keine sichtliche Besserung eintritt, höflich ersucht werden, den Fall einem andern zu überlassen, ja unter Umständen mag es der Praktiker für gut erachten, den Patienten selbst zu veranlassen, sich an einen andern Praktiker zu wenden. Mißerfolg seitens eines oder mehrerer Praktiker ist kein Grund zur Entmutigung, sondern weist vielmehr auf die Notwendigkeit der „Geduld in guten Werken” hin. Für jeden Fall gibt es eine richtige Behandlung, und Gott enthält uns weder die Wahrheit noch ihre Kundwerdung vor.

Da sich das Verhältnis zwischen Praktiker und Patient auf die Hilfsbereitschaft von Gottes Kindern, auf die gegenseitige Verwandtschaft der Ideen des Gemüts stützt, so gibt es in Wirklichkeit keine Einschränkung, kein Gebundensein, keine ungehörige mentale Einmischung. Auch die erfolgreiche Behandlung eines Falles fordert keineswegs das Weiterbestehen der Beziehung des Praktikers zum Patienten, ja das Erwarten der Notwendigkeit zukünftiger Hilfe ist geradezu ein Irrtum. Jeder Ruf um Hilfe sollte der göttlichen Führung untergeordnet werden. Kein Praktiker betrachte jemanden als seinen Patienten, es sei denn, er habe die Person tatsächlich in Behandlung. Wenn die Behandlung aufhört, so sind auch die gegenseitigen Verpflichtungen zu Ende; das Verhältnis kann jedoch zu jeder Zeit auf Vereinbarung hin erneuert werden. Es ist klar, daß in der Zwischenzeit Ausdrücke wie „mein Praktiker” oder „mein Patient” nicht am Platze sind.

Der wachsame Praktiker ist bestrebt, allem entgegenzuwirken, was zu dem Glauben führt, als sei es notwendig, für den Familienarzt oder den Geistlichen einen Stellvertreter zu haben. Er verläßt sich zum Zweck der Berichtigung irriger Annahmen gänzlich auf den heilsamen Einfluß rechten Denkens. Er versucht nicht, seine Gedanken auf den Patienten zu konzentrieren. Gott, das eine Gemüt, ist überall und bedarf keiner Konzentration. Praktiker und Patient nähern sich beide dem Thron der Gnade mit vollem Vertrauen und ohne allen Zweifel. Zuallererst muß der Praktiker unter der Leitung der göttlichen Weisheit feststellen, ob der Patient die nötige Empfänglichkeit für die christlich- wissenschaftliche Behandlung hat; denn, wie Mrs. Eddy sagt, „kein Mensch wird unter wissentlichem Irrtum oder durch denselben körperlich geheilt, ebensowenig wie er in oder durch Sünde moralisch erlöst wird” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 369). Nachdem der Praktiker den Patienten angenommen hat, sucht er nach Kräften das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Aber auch der Patient übernimmt Verpflichtungen. Beide müssen sich im rechten Lichte sehen, und beide sind in erster Linie Gott verantwortlich.

Nicht selten begegnet man der irrigen Annahme, als gäbe es Praktiker, die in der Behandlung gewisser Krankheiten ganz besonders geschickt seien. Daß Krankheiten kein eigentliches Wesen haben, wird sogar von den Vertretern mancher materiellen Heilmethoden zugegeben. Die Christliche Wissenschaft bildet keine Spezialisten heran, denn ihrer Lehre gemäß haben alle Krankheiten nur eine Ursache, nämlich die falsche Vorstellung von dem Wesen der Gesundheit, und eines jeden Christlichen Wissenschafters Spezialität muß somit darin bestehen, die Lügenannahme, daß Leben in der Materie sei, zu zerstören und des Menschen wahres Sein als ein geistiges Wesen ans Licht zu bringen.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Praktiker der Christlichen Wissenschaft kein Familenarzt, Rezeptverschreiber, Spezialist, Vermittler, Pastor noch Beherrscher ist. Er ist einfach ein Diener der Menschheit. Sein Herz ist nie verschlossen gegenüber dem Ruf aus Mazedonien, sondern er leiht ihm stets ein offenes Ohr und lenkt seine Schritte nach der Richtung hin, woher er ertönt. Der Meister-Metaphysiker, Christus Jesus, weist ihm sein Amt an, dessen praktisches Wesen von dem Apostel Jakobus in folgenden Worten klar dargelegt wird: „Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist der: die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt behalten.”


Willst du dich am Ganzen erquicken,
So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.

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