Ehe die Lehre der Christlichen Wissenschaft anfing, das Denken der Welt zu durchsäuern, wurde der sittliche Wert eines Menschen oft nach dem Grad des Leides bemessen, das er durchgemacht oder über sich hat ergehen lassen, sowie auch nach seiner Bereitwilligkeit, sich in den Hintergrund zu stellen. Es wurde als ein Zeichen großer Demut angesehen, wenn man sich nicht geltend machte, sondern in allen Dingen zurücktrat, und je geduldiger man Elend, Krankheit und Kummer ertrug, desto größer, so glaubte manch einer, war die Demut. Viele hatten den Sinn des Ausspruchs: „Dein Wille geschehe,” mißverstanden, schrieben das Leid aller Zeiten Gott zu und glaubten, durch ein williges Sichfügen dem Himmel, wie sie sich ihn vorstellten, näherzukommen.
Nun soll aber nicht gesagt sein, daß die christlich-wissenschaftliche Auffassung von Demut sich von echter Demut entferne. Nur die dumpfe Ergebung in ein vermeintlich böses Schicksal verwirft die Christliche Wissenschaft. Wahre Demut läßt das sterbliche Selbst zurücktreten und überwindet dadurch dessen Eifersucht, Haß, Neid, Krankheiten und Leiden — das ganze Heer menschlicher Übel, so daß das wahre, zum Bilde Gottes geschaffene Selbst offenbar werden kann. In dem Maße wie der Christliche Wissenschafter des Menschen gottverliehenes Wesen und seine Fähigkeiten erkennen lernt, schwindet bei ihm das Gefühl der Furcht; er wird wachsamer, mutiger, und macht sich im rechten Sinne geltend. Je mehr er sich auf Gott als auf sein leitendes Prinzip stützt, desto mehr streift er das sterbliche Selbst mit seiner Schwäche ab und nimmt jene Demut an, die es wagt, in Christi Namen zu handeln. Diese Art der Demut ist stark und kräftig in Zeiten der Not. Sie tritt nicht in den Hintergrund, wenn es Zeit zum Handeln ist. Jesus brachte mehr Demut zum Ausdruck als irgendein andrer Mensch, und dennoch hatte alles, was er lehrte und ausübte, Gewicht, und es stellten sich Ergebnisse ein, weil er die Erkenntnis besaß, daß Gott die Kraft war, die hinter ihm und seinem ganzen Wirken stand.
Mrs. Eddy sagt in ihrer Erklärung der christlich-wissenschaftlichen Auffassung vom Beten, Jesu Gebete seien „tiefe und gewissenhafte Bezeugungen der Wahrheit” gewesen (Wissenschaft und Gesundheit, S. 12). Jesus flehte nicht einen widerstrebenden Vater an, Seine Pläne bezüglich Seiner Kinder zu ändern, sondern er vertrat den Standpunkt, daß der Mensch in seiner Beziehung zu Gott jederzeit vollkommen und völlig zum Ausdruck kommt. Mit Demut protestierte er dagegen, daß Krankheit und Leiden einen Teil des göttlichen Planes bildeten, und durch seine klare, mutige und beharrliche Erkenntnis dieser Tatsache wurden die Kranken geheilt. Seine Lehren brachten Licht und Erkenntnis die Fülle, und oft heilte ein Wort aus seinem Munde die scheinbar hartnäckigsten Krankheiten. Wir sehen jedoch, daß er bei all seiner Demut diejenigen scharf rügte, die der Religion ein materialistisches Gepräge zu geben suchten, und seine Demut vermochte sehr wohl, den Irrtum die Kraft der Wahrheit fühlen zu lassen, die alles falsche Wesen vernichtet.
In seiner herrlichen Bergpredigt sagte Jesus von den Sanftmütigen, sie würden das Erdreich besitzen; d. h. der Mensch würde im Verhältnis zu seinem Verständnis von Gott über alle sterblichen Zustände und Verhältnisse Herrschaft erlangen, auf daß die Erde in der Tat von denen regiert werde, die die Kraft und Macht wahrer Demut erkannt haben und durch ihr Leben zum Ausdruck bringen. In ihrem Buche „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ sagt Mrs. Eddy: „Mehr denn königlich ist die Majestät der Demut des Christus-Prinzips” (S. 149). Sicherlich ist Kraft mit Demut gepaart nie klarer zum Ausdruck gekommen als durch das Erscheinen des Heilandes. Er kam in aller Stille in eine der geringsten Städte Judas, und dennoch bedeutete sein Kommen den Beginn der christlichen Zeitrechnung, den wichtigsten Zeitabschnitt in der Geschichte der Welt, einen Zeitabschnitt, der mehr Fortschritt, Erleuchtung und geistiges Leben und Streben umfaßt als alle vorhergegangenen, und der schließlich das tausendjährige Reich herbeiführen wird, jenen Zustand des Bewußtseins, da alle Tränen abgewischt werden und kein Schmerz mehr sein wird — da die volle Erkenntnis des von Gott geschaffenen Menschen erreicht ist.
Die Christlichen Wissenschafter erkennen, daß sie sich den durch Krankheit und Sünde verursachten Leiden nicht mehr zu unterwerfen brauchen. Es wird ihnen offenbar, daß Kranksein etwas ebenso Verfehltes ist wie Sündigen. Sie sehen ein, daß, wenn sie gegen Krankheiten Einspruch erheben, wie sie es gegen eine falsche Anklage auf ein Verbrechen tun würden, diese Übel ihnen nicht zur Erfahrung zu werden brauchten, denn Leiden entspricht der Wahrheit ebensowenig wie Sündigen. Wenn wir also unsre Stimme für unser rechtmäßiges Erbe als Söhne und Töchter Gottes geltend machen, sobald Disharmonie uns zu befallen scheint, so demonstrieren wir in Demut, daß wir Gottes Verheißung einigermaßen verstehen. Ich entsinne mich mit einem Gefühl der Dankbarkeit des folgenden Umstandes im Verlauf eines Gesprächs mit einem bejahrten und erfahrenen Christlichen Wissenschafter. Es wurde eine religiöse Frage besprochen. Der ältere Wissenschafter sagte in bezug auf eine Bemerkung, die ich machte, sie sei sehr treffend, und er habe die Sache noch nie von der Seite betrachtet. Dieser Mann hatte eine langjährige Erfahrung hinter sich, reiste in der Welt umher, um andern die heilende Botschaft der Wahrheit zu bringen, war aber gerne bereit, von andern zu lernen! Die Verwunderung des Schreibers ist seither der Erkenntnis gewichen, daß unsre Kraft und Tüchtigkeit von unsrer Willigkeit bedingt wird, die Wahrheit „als ein Kindlein” zu empfangen, wie der Meister sagte.
In Wissenschaft und Gesundheit (S. 516) finden wir die herrlichen Worte: „Das Gras zu unsern Füßen ruft stillschweigend aus: Die Sanftmütigen ‚werden das Erdreich besitzen‘.” Jesaja scheint denselben Begriff der heilenden Kraft gehabt zu haben, denn er schreibt: „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.”
