Die Christen sind sich im allgemeinen über gewisse Grundsätze einig. So stimmen sie zum Beispiel darin überein, daß es Jesu Aufgabe war, der Welt die frohe Botschaft der Erlösung zu bringen. Diese Botschaft ist das heilige Evangelium, worauf die christliche Kirche gegründet wurde. Später wurde mit dem Wort evangelisch allerdings eine bestimmte Gruppe christlicher Kirchen bezeichnet, die gewisse gemeinsame Glaubenslehren angenommen hatten, sodaß der Ausdruck viel von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt hat. Heutzutage scheinen nur solche Menschen berechtigt zu sein, sich der sogenannten evangelischen Gruppe zuzurechnen, die sich zu gewissen Glaubenssätzen bekannt haben.
Es ist lehrreich und wichtig, den Ursprung des evangelisch zu untersuchen. Es ist aus zwei griechischen Wörtern zusammengesetzt, die „gute Nachricht” oder „frohe Botschaft” bedeuten. Nun, scheint nicht jede Nachricht, die die wunderbare Botschaft von der unendlichen Güte Gottes, von des Menschen gegenwärtiger Vollkommenheit und von der daraus folgenden Unwirklichkeit des Bösen übermittelt, die bei weitem beste Nachricht zu sein, die verkündet werden kann? Mrs. Eddy spricht sich sehr bestimmt über diesen Punkt aus. In Retrospection and Introspection (S. 65) erklärt sie: „Die Christliche Wissenschaft ist die reine evangelische Wahrheit. Sie hat das gleiche Ziel und den gleichen Sinn wie die Lehren und Taten Christi, da sie die in den vier Evangelien gelehrte Macht Christus beweist.”
Wenn auch alle christlichen Religionen unzweifelhaft viel geistige Wahrheit enthalten, so erfüllt doch die Christliche Wissenschaft die Lehren Christi Jesu nachweisbar in höherem Maße als irgendein andres christliches Bekenntnis. Darum ist sie auch eher wahrhaft evangelisch. Rückhaltund bedingungslos nimmt sie das ungeteilte Gewand Christi an. „Macht die Kranken gesund, reinigt die Aussätzigen, weckt die Toten auf, treibt die Teufel aus,” „Prediget das Evangelium aller Kreatur,” d. h. seid euch der Wahrheit des Seins über alle von Gott erschaffenen Geschöpfe bewußt. Alle diese Pflichten, diese strengen Befehle Christi Jesu gehören der Christlichen Wissenschaft zufolge mit zur wahren Jüngerschaft.
Ein gegebenes Glaubensbekenntnis oder feststehende Lehrsätze sind noch kein Beweis für die wahre Verkündigung des Evangeliums. Man muß die Wahrheit über Gott, den Menschen und das Weltall verstehen, die das Böse zerstört. Es gibt tatsächlich keinen andern Beweis, auf den man sich verlassen kann. Was nützt es einem, zu glauben, wenn man seine Glaubenssätze nicht beweisen kann! Und die von den Christlichen Wissenschaftern vollbrachten Werke sind die höchsten Beweise von wahrer Jüngerschaft, die eine Gruppe religiöser Menschen seit der Zeit, wo die ersten Kirchenväter ihre irdische Laufbahn beschlossen, je erbracht hat. Der Schlußsatz des obenerwähnten Abschnitts aus Retrospection and Introspection enthält den Schlüssel zu der Lage: „Wahrheit, die das Böse austreibt und die Kranken heilt, Liebe, die das Gesetz erfüllt und den Menschen von der Welt unbefleckt behält,— diese praktischen Offenbarwerdungen des Christentums bilden die einzige Verkündigung des Evangeliums, und sie haben kein Glaubensbekenntnis nötig.”
Könnte der sündigen und leidenden Menschheit eine frohere Botschaft gebracht werden als die, daß die unharmonischen Zustände, von denen sie gewöhnlich bedrängt wird, nicht wahr sind, daß sie in dem von Gott geschaffenen Weltall keinen Raum finden, und daß Er alles gemacht hat, was gemacht ist? Gibt es eine heilende und erlösende Botschaft, die man mit größerer Freude willkommen heißen würde, als die Erkenntnis, daß der Mensch als das Kind Gottes jetzt geistig und vollkommen ist und vom Vater unendlich reichen Segen empfängt? Wieviel Bürden werden behoben und wieviel Kummer wird verscheucht, wenn auch nur ein Schimmer von dieser wunderbaren Schönheit der Heiligkeit, die die Gefangenen frei macht, in unserm Bewußtsein aufgeht!
Erscheint es angesichts des Gesagten nicht sinnwidrig, zu denken, man müsse diese oder jene Glaubenslehre annehmen, um sich mit Recht „evangelisch” nennen zu dürfen? Die Welt ist des Glaubens satt, daß das bloße Absingen von Kirchenliedern und das Wiederholen von Glaubenssätzen ihre große Notdurft stillen wird. Die Menschheit verlangt nach praktischem Christentum — nach einem Christentum, durch das die Christus-Eigenschaften im täglichen Leben derer zum Ausdruck gebracht werden, die den Namen „Christen” tragen. Nicht dadurch, daß man an die Werke Christi Jesu glaubt oder davon spricht, beweist man seine wahre Jüngerschaft, sondern dadurch, daß man diese Werke tut. Die Christlichen Wissenschafter wissen das und erkennen angesichts der bestimmten Ermahnung ihrer Führerin bereitwillig die Notwendigkeit an, ihren Glauben dadurch zu beweisen, daß sie Krankheiten durch geistige Mittel heilen und Sünde in sich selbst und andern zerstören.
Offenbar nehmen die Christlichen Wissenschafter die Ermahnung Jesu, die Toten aufzuwecken, nicht so bereitwillig an, denn sie scheinen sich für diese höhere Demonstration noch zu wenig vorbereitet zu fühlen. Und doch ist es ein bestimmter Befehl, und wir haben die großen Beispiele des Meisters und andrer geistiger Seher vor uns. Der Tod ist nicht weniger als jede andre Täuschung ein Anspruch des Irrtums, der durch geistiges Verständnis zerstört und machtlos gemacht werden muß. Wenn die Schüler der göttlichen Wissenschaft jene höhere Stufe erreichen, von wo aus die Annahmen des Fleisches immer deutlicher als unwirklich erkannt werden, dann wird dieser Beweis sicher auch erbracht werden. Der Anfang ist bereits damit gemacht worden, und durch Verzögerung wird nichts gewonnen. Jede Gelegenheit ist ein unmittelbarer Antrieb zu höheren Demonstrationen. Wenn die Christlichen Wissenschafter die Erhabenheit der geistigen Einfachheit erfassen, sodaß ihr Blick nicht mehr durch die Nebel der materiellen Gesinnung getrübt wird, dann ist es möglich, jeden guten Zustand zu erreichen. Diese höheren geistigen Anforderungen werden nicht durch zeitweilige, unregelmäßige Anstrengungen erfüllt, sondern durch beständige Selbstaufopferung, durch fortwährende, beharrliche Selbstverleugnung und durch das unentwegte Bestreben, sich über die Ansprüche des Fleisches zu erheben.
Dies sind einige von den Forderungen, die die frohe Botschaft, das wahre Evangelium, uns übermittelt. Wenn wir sie zu Herzen nehmen und ihnen nachkommen, werden wir reich gesegnet. Sie weisen den Weg. Werden wir darauf wandeln?
