Als heiliges Leben pflegt man gewöhnlich ein Leben zu betrachten, das sich einem edlen Zweck geweiht hat und sich von weltlichen Dingen und irdischen Freuden fernhält. Aber wahre Heiligkeit bedeutet weit mehr als das, denn man kann wohl der weltlichen Umgebung weit entrückt sein und doch weltliche Gedanken hegen und von materiellen Wünschen und Neigungen erfüllt sein, die nur unterdrückt und nicht überwunden sind. Um wahrhaft heilig zu sein, muß man sein Bewußtsein der Betrachtung und Beweisung der Wahrheit widmen, muß es zum Tempel ruhigen, geordneten und heiligen Denkens machen, worin die Liebe wohnt. Heiligkeit ist demnach ein Zustand des Bewußtseins, der einen befähigt, sich über das allgemeine ansteckende materialistische Denken in das Reich des reinen Gemüts zu erheben und dort bei beseligender Betrachtung der ewigen Wahrheiten zu verweilen.
Solche Heiligkeit führt zu klarer Erkenntnis. Sie reinigt das Bewußtsein von allem Bösen und allem müßigen Denken, bringt das menschliche Selbst zum Opfer und verherrlicht Gott. Wahre Heiligkeit verlangt nicht von uns, daß wir den Verkehr mit unsern Mitmenschen aufgeben, wohl aber, daß wir unser falsches Denken über sie aufgeben, daß wir unsre Gedanken nicht mehr auf Personen und persönliche Angelegenheiten richten noch mit dem beschäftigen, was von den Sinnen wahrgenommen wird. Voll heiterer Ruhe und Milde, aber doch voll Festigkeit, schöpft die Heiligkeit ihre Kraft aus dem Streben nach hohen Zielen und aus der Beharrlichkeit in der Verfolgung dieser Ziele. Sie bringt dem, der sie liebt, geistige Freude und geistigen Frieden und vertraut ihm die Geheimnisse der Offenbarung und des Verständnisses an.
Die Willigkeit zum Heiligsein bietet unendliche Möglichkeiten, Gutes zu tun. Doch seltsam genug, gehen wir in dem wirren Getümmel des menschlichen Strebens oft an ihnen vorüber und warten auf eine auf eine passendere Gelegenheit. Das sterbliche Gemüt behauptet: „Ich habe zuviel zu tun, als daß ich noch über geistige Dinge nachdenken könnte. Die menschlichen Anforderungen an meine Zeit sind zu groß.” Aber ist das auch wahr? Ob wir nun im Hause oder im Geschäft tätig sind oder einfach die Straße entlang gehen, beständig denken wir an etwas. Könnten wir inmitten des menschlichen Treibens unser Denken nicht ebenso gut und entschieden auf die Dinge Gottes richten wie auf die Dinge der Materie? Und wäre es nicht ebenso leicht, bei unsrer Arbeit in Gedanken ein Kirchenlied zu summen, anstatt Denken träge über die Zukunft oder die Vergangenheit nachbrüten zu lassen? Gott ist immer gegenwärtig, wo wir auch sein mögen, und es ist immer möglich, sich Seiner Gegenwart bewußt zu werden, bei welcher Arbeit wir uns auch befinden. Wie haltlos ist also die Entschuldigung, wir seien zu sehr beschäftigt, um unsre richtige geistige Arbeit zu tun! Nein, unser Interesse richtet sich nur zu oft auf das vorübergehende Schauspiel des sterblichen Lebens, und unsre Gedanken sind zu sehr mit Sünde und Krankheit beschäftigt, als daß wir den geistigen Wahrheiten volle ernste Aufmerksamkeit schenken könnten.
Tatsächlich sind viele von uns der Meinung gewesen, sie könnten denken, was ihnen beliebt, solange sie sich äußerlich richtig betragen, und so hoben wir sorglos alle möglichen Gedanken ungehindert durch unser Bewußtsein fluten lassen. Aber unbewachtes Denken läßt den Eingang zum Bewußtsein frei, sodaß Irrtum aller Art sich einschleichen, die Gedanken ablenken und somit hindern kann, sich mit den höheren und edleren Dingen des Lebens zu beschäftigen. Wer von uns hat nicht schon viel Denkkraft unnütz verbraucht, um über Personen nachzudenken oder sich zu wundern, was sie über ihn denken mochten, während er auf seiner Reise himmelwärts ein gutes Stück vorwärts gekommen wäre, hätte er diese Kraft in die richtige Bahn gelenkt. Wahrlich, es kommt auf unser Denken an, ob wir in der Wüste umherwandern oder uns des Aufenthalts auf den geistigen Höhen erfreuen. Wir sind krank oder gesund, schwach oder stark, traurig oder glücklich, je nach den Gedankenbildern, die wir beherbergen. Wie können wir uns also sorglosem, ungenauem Denken überlassen und dann erwarten, wahre Menschen sein zu können?
Sogar als Christliche Wissenschafter denken wir oft mehr über persönliche Schwierigkeiten nach als über die Wahrheit. Unser höchstes Streben ist nur zu oft an die Erde gebunden, weil wir uns durch menschliche Angelegenheiten beunruhigen lassen. Durch übereifriges Interesse an menschlicher Beschäftigung verlieren wir den wahren Geist für unsre Arbeit, verringern also unsre Fähigkeit zu heilen. Mrs. Eddy sagt auf Seite 341 von Miscellaneous Writings: „Weder die Sorgen dieser Welt noch die sogenannten Freuden und Schmerzen des materiellen Sinnes können das Vernachlässigen des geistigen Lichts entschuldigen, das gepflegt werden muß, um die Flamme unsrer Hingebung brennend zu erhalten, die uns in die Freude der durch die Tat bewiesenen göttlichen Wissenschaft eingehen läßt.” Wenn wir also unser Bewußtsein nicht beständig durch das geistige Licht hell erhalten, dann tun wir nicht die heilige, für unsre Bewegung erforderliche Arbeit, wie selbstlos wir auch unsre Zeit und unsre Gedanken den äußeren Tätigkeiten der christlich-wissenschaftlichen Bewegung widmen mögen.
Es mag schwerer scheinen, inmitten des Getümmels der sterblichen Erfahrung ein Leben der Geistigkeit zu leben als in der Stille des Abgeschlossenseins. Wenn wir aber auf die Höhe hinausfahren und an der Heiligkeit festhalten, dann wachsen wir über menschliche Angelegenheiten, Persönlichkeiten und Dinge so weit hinaus, daß sie unser Denken nicht mehr ablenken und uns nicht davon abhalten können, Gott zu erkennen. Auf diese Weise werden wir auf alles, was wir tun, den heilenden Geist anwenden, der Freiheit und Harmonie hervorbringt und „das Tal knospen und blühen [läßt], gleich der Rose” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 596). Sicherlich sind materielle Anziehungskraft, Beliebtheit, Stolz, Reichtum und hohe Stellung für den keine Versuchung, der einmal ein Verständnis vom geistigen Leben erlangt hat. Sein Sehnen nach Heiligkeit läßt ihn seinen Blick standhaft auf das Licht richten, und alle Mächte dieser Erde können ihn auf seinem Pfade himmelwärts nicht aufhalten. Die menschlichen Dinge an sich können uns nicht ablenken; die Auffassung, die wir von ihnen haben, tut es. Um geistig zu wachsen, ist es daher nicht so notwendig, sich von den allgemein üblichen Dingen fernzuhalten, als sich vielmehr von ihrem hindernden Einfluß zu befreien, indem man sich mit heiligen Gedanken erfüllt, bis das geistige Denken die Übermacht hat und man vertrauensvoll sagen kann: „Ich achte der keines.”
Das sogenannte sterbliche Gemüt beansprucht die Macht, uns in materielles Denken zu versenken und, wenn möglich, die Christus-Idee zu ersticken. Es möchte unser Denken mit Glaubenslehren, mit falschen Regeln und Überlieferungen im Banne halten und uns daran hindern, das Licht geistiger Erleuchtung und Einsicht zu erlangen. Aber die Christliche Wissenschaft lehrt uns, wie wir unsre Gedanken ausschließlich auf heilige Dinge richten und uns vor dem Ansturm falscher Annahmen durch rechtes Denken schützen können. Sie lehrt uns, daß unser Bewußtsein etwas Heiliges ist, daß es der Ort ist, wo wir Engel beherbergen, den Duft der göttlichen Wissenschaft einsaugen, die Berührung der göttlichen Liebe fühlen und Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Das Bewußtsein ist also nicht eine Bühne, auf der sich die unwirklichen Schauspiele des sterblichen Gemüts abspielen können, und wir sollten die falschen Annahmen, den Schutt krankhaften Denkens, ebensowenig darin aufnehmen, wie wir unsre Wohnungen mit Plunder anfüllen würden.
Die Wunder des Weltalls, all das Schöne, das uns im Bereich des Denkens umgibt, liegt innerhalb unsrer Fassungskraft. Es wartet nur darauf, daß wir es erkennen. Warum sollten wir uns also nicht von den materiellen Annahmen absondern und uns mit unserm Denken ganz in die Wahrheit zurückziehen? Hat nicht die Menschheit noch zu lernen, wie sie ihr Denken in rechter Weise geistigen Dingen widmen muß ? Nur durch Hingabe an die Wahrheit können wir in das Himmelreich gelangen und uns der Gegenwart Gottes bewußt werden. Das Bewußtsein muß so rein und heilig gehalten werden, daß es klar wird wie Kristall, wie „der helle Morgenstern,” damit die Wahrheit ungehindert durchscheinen kann. Denn mit einem reinen, erhabenen Gemüt werden wir das unsichtbare geistige Weltall der Liebe schauen und befähigt werden, geistige Eindrücke zu empfangen — mit Gott zu sprechen. Die Erleuchtung eines geheiligten Bewußtseins hilft uns, außerhalb des sterblichen Gedankenreichs zu leben und frei, gesund und stark zu sein.
Der Welt von heute tun klardenkende, erleuchtete Menschen mit geistiger Erkenntnis dringend not, Menschen, die ihr Gemüt durch Gebet für die göttlichen Eingebungen empfänglich machen. Prüfen wir uns also, in welchem Maße wir wahre, geistige Gedanken denken, und tun wir tun die Tür zu unserm Bewußtsein weit auf, damit die Engel-Gedanken darin eingehen können. Wenn wir uns in den stillen Abendstunden fragen, womit sich unsre Gedanken tagsüber beschäftigt haben, ob mit Geist oder Materie, dann erkennen wir den Grund für das stille Singen in unserm Herzen oder auch für das Gefühl des Unbehagens, das sich schwer vertreiben lassen will. Mögen wir alle unser Leben heiligem Denken weihen und ernstlich beten:
„Dich täglich suchen, Herr,
Ist meine Freude;
O laß mein Auge dich
In wahrem Lichte seh’n.”
