In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 539) stehen die Worte: „Gott könnte niemals ein Element des Bösen mitteilen.” Wir geben alle zu, daß Gott die erste und alleinige Ursache, der einzige Schöpfer ist, und das ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß das Böse keinen Ursprung und keinen Ausgangspunkt hat, daß es nichts gibt, woraus Böses entstehen könnte und daß es daher keinen Entwicklungsgang und keine Geschichte, also auch keine Vergangenheit hat. Obwohl alle Christlichen Wissenschafter die christlich-wissenschaftliche Lehre verstandesmäßig annehmen, daß das Böse, weil es im unendlichen Guten kein Dasein hat, nicht wirklich besteht, so gelingt es doch manchen nicht, diese große Wahrheit in bezug auf einen besonderen Irrtum, mit dem sie zu kämpfen haben, offenbar zu machen, weil sie immer noch an dem Glauben festhalten, daß dieser Irrtum eine Vergangenheit, eine Geschichte hat und daß er mit etwas Vorhergegangenem in Verbindung steht. Auf diese Weise kommen alte Annahmen, vergangene Erfahrungen, die wir vergessen und erloschen glaubten, zu Zeiten scheinbar mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Kraft zurück und verleiten uns zu der Annahme, daß sie tatsächlich etwas waren und noch sind. Dieser Anspruch des Irrtums auf eine geschichtliche Vergangenheit und eine Grundlage, von der er ausgeht, muß vernichtet werden durch die Erkenntnis, daß der einzige Irrtum, mit dem wir aufräumen müssen, der Irrtum ist, der uns jetzt entgegentritt. Wie viele Verzweigungen ein Irrtum auch zu haben scheint oder wie lange er schon bestanden haben mag: es ist doch nur unser gegenwärtiger Glaube an das Böse und dieser gegenwärtige Glaube ganz allein, mit dem wir zu kämpfen haben. Wir leben in der Gegenwart. Es gibt keine Vergangenheit, da es in Wirklichkeit keine Zeit gibt. Alles, was wir tun können und tun müssen, ist: jetzt richtig denken und handeln. Wenn wir das tun, können wir die Vergangenheit „loskaufen.”
Paulus ermahnt die Epheser, die Vergangenheit „loszukaufen, denn die Tage sind böse.” ) Eph. 5: 16, nach der engl. Bibelübersetzung.) Laßt uns die Vergangenheit „loskaufen,” indem wir verstehen lernen, daß die Annahme von Zeit eine falsche Annahme, ein Irrtum ist und daß das Jetzt uns gute Gelegenheiten bietet, die Fehler, Kränkungen, Fehlschläge und Enttäuschungen der Vergangenheit auszumerzen. Wir brauchen uns nur klar zu machen, daß sie in der Wahrheit niemals bestanden haben und daß es nie das geringste Böse gegeben hat, woraus sie hätten hervorgehen können. Viel irrige Gewohnheiten — sogenannte Charakterfehler und persönliche Eigentümlichkeiten — verlieren ihren Halt, wenn sie von ihrer Verknüpfung mit einer unabänderlichen Vergangenheit, in welcher wir so oder so empfunden, gedacht oder gehandelt haben sollen, losgelöst sind. Wenden wir diesen Irrtümern energisch den Rücken und weigern wir uns, ihnen ein Recht auf uns zuzugestehen, so erkennen wir, daß sie nichts weiter sind als vereinzelte, zusammenhanglose Versuchungen, die sich uns gegenwärtig entgegenstellen, dabei aber beanspruchen, schon irgendwo in der Vergangenheit oder in etwas, das nicht von Gott ist, bestanden zu haben. Sobald der Glaube an eine unglückliche Vergangenheit überwunden ist, hat das mutmaßliche Gesetz des sogenannten sterblichen Gemüts, daß alte Annahmen wiederkehren können, keinen Halt mehr. Wenn wir uns klar machen, daß wir mit der Materie nichts zu tun haben, sondern eins sind mit Geist, dann können wir mit Überzeugung behaupten, daß Gottes Idee nie etwas gedacht, empfunden oder getan hat, das nicht mit dem Gesetz Gottes übereinstimmte — dem unwiderstehlichen und unumstößlichen Gesetz der Wiederspiegelung und Harmonie — und daß sie kein Bewußtsein hat außer dem, das das göttliche wiederspiegelt. Auf diese Weise können wir den neuen Himmel und die neue Erde erschauen, wo, wie der Prophet Jesaja sagt, „man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch sie zu Herzen nehmen.”
Die Notwendigkeit, die Annahme der Vererbung zu überwinden, wird nicht immer eingesehen. Diese Annahme wird jedoch so allgemein als ein Gesetz betrachtet, daß ihr tatsächlich überall Glauben geschenkt wird. Es erscheint so selbstverständlich, daß gewisse Eigenschaften und Eigenheiten, Gaben, Veranlagungen, Neigungen u.s.w. sich unter den Mitgliedern gewisser Familien zeigen, daß die Christlichen Wissenschafter, außer in ausgesprochenen Krankheitsfällen, die Notwendigkeit des beständigen Zurückweisens dieser Annahme nicht immer erkennen. Aber wenn wir unsre Gaben und guten Eigenschaften nicht auf ihre eine göttliche Quelle zurückführen, zu „dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis,” so geht uns die Fähigkeit verloren, uns und andre zu segnen, ebenso wie viele Schwächen und Unfähigkeiten nicht eher von uns genommen werden, als bis wir uns von dem Glauben an Familienschwächen freigemacht haben. Wenn wir klar erkennen, daß das Böse keinen Ursprung und keinen Anfang hat, werden wir leicht verstehen, daß es auch keine Nachwirkung und keine Fortdauer haben kann, ebensowenig wie ein Traum wirkliche Ursache und Wirkung hat. Wir müssen unser Innerstes ergründen, um zu erfahren, ob wir wirklich bereit sind, die Kinder des einen allumfassenden Vater-Mutter zu sein, bereit, alles aufzugeben, was mit der Annahme zusammenhängt, daß wir einer gewissen menschlichen Familie angehören. Christus Jesus sagte: „Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter.”
Nachdem die Annahme von der Erbsünde zerstört ist, müssen wir auch den Gedanken aufgeben, daß sie durch irgendein Verfahren, durch ein besonderes Mittel oder Werkzeug fortgesetzt oder übertragen werden kann. Der Irrtum hat kein solches Werkzeug. Da das Böse selbst kein Dasein hat, können auch böse oder unrichtige Gedanken kein Dasein haben. Wenn sich böse Gedanken von einem Menschen auf den andern übertragen könnten, so würde das die Eigenart des Menschen zerstören. Des Menschen Eigenart wird durch das Gesetz Gottes bestimmt; daher ist sie bereits vollkommen und vollständig, und kein Begriff vom Bösen, kein beunruhigendes Element, ist je in dieses Heiligtum eingedrungen und kann je darin eindringen. Wir können unsre wahre Eigenart nur finden, indem wir das göttliche Wesen erschauen. Ein Gefühl des Verletztseins oder des Grolls — beide sind letzten Endes dasselbe und nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden — erscheint als Folge von etwas, das in der Vergangenheit gesagt oder getan wurde, sei es in der jüngsten Vergangenheit oder weit zurück, so weit wie das menschliche Gedächtnis oder menschliche Aufzeichnungen reichen. Wie kann diese Last von uns genommen werden? Nur durch die Christliche Wissenschaft, die erklärt, daß das Gefühl des Verletztseins niemals eine wirkliche Ursache gehabt hat. Ohne den menschlichen Glauben an die Möglichkeit der Übertragung sterblicher Gedanken könnte niemand auch nur anscheinend unter dem leiden, was ein andrer tun oder denken mag. Der erste und wichtigste Schritt beim Überwinden jeder Schwierigkeit ist stets das Ausschalten des sogenannten Persönlichen. Wenn der Christliche Wissenschafter Prüfungen, Schwierigkeiten und falscher Beurteilung gegenübersteht und mit Widerstand zu kämpfen hat, versucht er nicht, einen Sterblichen als Gotteskind zu sehen, denn das würde ihm nie gelingen. Er muß die sterbliche Auffassung ganz und gar aufgeben, sich Geist zuwenden und erkennen, daß nur das, was im Geist zu finden ist, in die Erscheinung treten kann. Von diesem Standpunkt aus können alle falschen Gedanken zurückgewiesen werden als bloße Einflüsterungen eines Glaubens an etwas, das nicht von Gott ist.
Im Glossarium von „Wissenschaft und Gesundheit” (S. 588) lesen wir, daß der Heilige Geist „die Entwicklung ewigen Lebens, ewiger Wahrheit und Liebe” ist. Diese Entwicklung oder Entfaltung des göttlichen Wesens ist die geistige Gemütstätigkeit, die den Entwicklungsgang eines Christlichen Wissenschafters bildet. Sie ist das In-die-Erscheinung-treten der wahren Eigenart.
