Zwei Studenten der Theologie kamen ins Gespräch darüber, ob es wohl in unsrer Zeit der wissenschaftlichen Forschung möglich wäre, die Lehren unsres Erlösers wörtlich aufzufassen und darauf eine religiöse Sittenlehre zu gründen, die in unsre Zeit hineinpaßt. Einer der beiden, dessen Augenmerk besonders auf die unerschütterlichen Regeln der Folgerichtigkeit gerichtet war, hielt es für unmöglich; der andre soll entgegengesetzter Ansicht gewesen sein.
Es ist wohl anzunehmen, daß der vorgeschrittene Schüler der Christlichen Wissenschaft auf eine so klar umrissene Frage eine schnelle Antwort bereit gehabt hätte. Der ehrliche Arbeiter in der Wahrheit, der die Evangelien unbedingt für heilig hält, von welchem Gesichtspunkt aus sie auch betrachtet werden mögen, schon wegen ihrer segensreichen Wirkung auf eine geistig hungernde Welt, stellt sie keinen Augenblick in Frage, sondern bemüht sich unaufhörlich, ihre geistige Bedeutung zu erfassen. Das gibt ihm das überzeugende Gefühl, daß er sein Bestes tut, um Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten.
Sollte ein auf dieser Grundlage ruhender Glaube nicht selbst einem zweifelnden Thomas beweisen, daß ein sorgfältiges Studium der Evangelien reicheren Gewinn bringt für ehrliches Bemühen als irgend etwas andres und daß ein unbedingtes Sichverlassen auf unsres Meisters Worte erlöst, heilt und uns in jeder Hinsicht zu besseren Christen macht? Sicherlich wurden solch wertvolle Lehren uns nicht durch Zufall, sondern durch Gottes unvergleichlich liebevolle Fürsorge für Seine Kinder zuteil, und die Macht der Wahrheit, die sie durchdringt, spricht jedem Versuch Hohn, sie auf rein theoretische oder lehrsätzliche Vergleiche zurückführen zu wollen.
Jesu Predigten erregten Aufsehen bei all seinen Zuhörern, sofern sie nicht gar zu tätlichem Vorgehen veranlaßten, und doch bestärken die Schilderungen über die Begebenheiten der apostolischen Tage mit erstaunlicher Genauigkeit alles, was er lehrte. Seine Unerschrockenheit war unvergleichlich, und seine Worte brannten wie läuterndes Feuer. Tatsächlich war sein ganzes Wirken in gewissem Sinne umwälzend; doch haben seine Aussagen der Zeit standgehalten, und in der Folgerichtigkeit der Begebenheiten mußte notwendigerweise später ein Apostel der Wahrheit aufkommen, der geistig ausgerüstet und imstande war, uns eine Auslegung der Lehren Jesu zu geben, die der fortschreitenden Erkenntnis der Welt gerecht wurde. Trifft es nicht zu, daß der Welt ein Prophet gegeben wird, sobald sie seiner bedarf? Wer aber über allgemein anerkannte, feststehende Begriffe immer wieder in Zweifel gerät, mag wohl nicht fähig sein, in den durch ihr Leben bestätigten Schriften Mary Baker Eddys, der Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, eine zu weltumfassender Anerkennung bestimmte Religionslehre zu erblicken. Der wahrhaft treue Schüler sollte jedoch ruhig warten können. Bedeutende Zeitabschnitte in der Geschichte sind nicht flüchtiger Natur, sie sind das Ergebnis von Jahrhunderten.
Kann jemand seinen Glauben unzweideutiger darlegen als unsre Führerin, wenn sie auf Seite 269 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” sagt: „Ich gründe mich daher rückhaltlos auf die Lehren Jesu, seiner Apostel und der Propheten, sowie auf das Zeugnis der Wissenschaft des Gemüts”? Wie erreicht sie das? Durch treuliche, unermüdliche Achtsamkeit auf die innere Stimme der Wahrheit, die uns vernehmbar wird, wenn wir sie ernstlich und mit offenem und vertrauendem Herzen suchen.
Um noch zu zeigen, wie gewissenhaft sich unser Meister bemühte, sich seinen Zuhörern verständlich zu machen, wollen wir kurz auf seine Gleichnisse eingehen. Diese mögen in gewissem Sinne als „Erzählungen” bezeichnet werden, die aus einem augenblicklichen Bedürfnis nach treffender Erläuterung hervorgingen. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes ist ein mustergültiges Beispiel für eine biblische „Erzählung,” doch denken wir je daran, daß die darin geschilderten Ereignisse sich nie zugetragen haben? Enthält sie in ihrer trefflichen Anwendung, mit all ihren so natürlichen Einzelheiten nicht eine glaubwürdige und vollständige Wahrheit? Was macht es dann aus, ob wir sie Wirklichkeit oder Erzählung nennen? Dem ernsten Sucher geht die Lehre doch ebenso unmittelbar zu Herzen.
Es trifft natürlich zu, daß eine Lehre, die wir wörtlich annehmen sollen, reichliche Beweise für ihre Wahrheit erbringen muß. Hat nicht die Christliche Wissenschaft in der Geschichte aufbauenden Denkens den Beweis geliefert, daß sie wahr ist? Und wir könnten noch weiter fragen: Ist in der Geschichte jemals ein Prophet ohne weiteres angenommen worden? Jesu Heiltätigkeit allein hätte ihn schon als Erlöser kenntlich machen sollen, aber vielen mag es in ihrer tiefen Verblendung fast scheinen, als ob er umsonst gelehrt und geheilt hätte.
In der weiteren Verfolgung dieser Betrachtung finden wir eine engere Übereinstimmung zwischen einem biblischen Gleichnis und einem sogenannten Wunder, da das letztere ein Geschehnis, das erstere nur eine bildliche Redeweise ist, die einzig dazu dienen soll, eine Lehre zu geben. Ist das eine wahrer als das andre? Die Heilung des Aussätzigen ist eine geschichtliche Begebenheit, nicht aber das Gleichnis vom Säemann, und doch, sind sie nicht beide durchaus wahr, so wahr, daß sie für alle Zeit im menschlichen Denken Aufnahme finden werden?
Aber, wird der Schüler sagen, der sich nicht übermäßig viel mit diesen Dingen abgibt, solche Anwendung, wie sie hier in Betracht kommt, erfordert Arbeit. Gewiß erfordert sie Arbeit; wir kennen keine Belohnung für den Säumigen. „Hilf’ dir selbst, so hilft dir Gott” ist ein altbewährtes Sprichwort, das heute so wahr ist wie je. Der Dichter Whittier sagt:
Arbeite, schaff’ und bete,
Räum’ die Dornen aus dem Weg,
Reiß der Sünde Unkraut aus,
Und laß Gottes Sonnenschein ein.
Bei unserm Bemühen, unser tägliches Denken zu berichtigen, mögen wir deshalb wohl bedenken, daß wir nur dann unsern rechtmäßigen Anteil am Guten aus den Lehren der Evangelien oder aus der Heiligen Schrift überhaupt empfangen können, wenn wir mit dem Apostel Jakobus sagen können: „Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken.” Darum wollen wir wenigstens den Versuch machen, unsre Zweifel und unsern Mangel an Arbeitslust zu überwinden, indem wir irgendeine wirkliche Arbeit aufnehmen, die unsern geistigen Besitz vermehrt und dazu beiträgt, unsern Glauben an bessere Dinge und unser Verlangen danach zu läutern und zu stärken.
