Die erhabene Schönheit des Lebens Jesu von Nazareth ist eine leuchtende Veranschaulichung der Wirkung der „ruhigen, starken Ströme wahrer Geistigkeit”, wovon Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 99) spricht. Jesu unerschütterliches Festhalten an der Wahrheit von des Menschen Einheit mit dem Vater, seine Weigerung, eine von dem göttlichen Wesen getrennte Weisheit anzuerkennen, sein grenzenloses Lieben und Erbarmen, beschützten ihn nicht nur vor den „Strömen der menschlichen Natur” (Miscellaneous Writings, S. 212), die sich, wie Mrs. Eddy sagt, „dem rechten Lauf entgegenwerfen”, sondern gaben ihm auch Macht, diese Ströme aufzuhalten und die Einflüsterungen zu zerstören, die ihnen ihre angebliche Tätigkeit verliehen haben.
Die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings zu Nain veranschaulicht diesen Punkt mit besonderer Deutlichkeit. Der trauernde Leichenzug, der von der Mutter des Jünglings bekundete Glaube an Verlassenheit und Trennung, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das Sichergeben ins Unvermeidliche, — das alles war für Jesus eine Aufforderung zu heilen; und als der Zug herankam, sprach er mit zärtlicher Anteilnahme zu der Mutter: „Weine nicht!” Dann rührte er den Sarg an. Sein geistiger Begriff von Leben überwand die Annahme vom Tod; der Strom falschen Denkens wurde aufgehalten, und der befreite Sinn des Jünglings gehorchte dem Gebot: „Stehe auf!” Welch verändertes Bild bot sich plötzlich dar! Als der Zug sich in die Stadt zurück bewegte, muß allen das Gefühl des Lebens und der Freude derer, die vorher Elend zum Ausdruck gebracht hatten, aufgefallen sein.
Es würde für uns alle lehrreich sein, festzustellen, in wie weit wir das viele Vorüberziehen traurigen Denkens unserer Umgebung zulassen oder es aufhalten. Jeder klare Wahrheits-Gedanke bewirkt Heilen. Laßt uns also dankbar sein für die vielen sich darbietenden Gelegenheiten, den Druck der Einflüsterung zu vermindern, die, obwohl von jeher geglaubt und gefürchtet, doch nie einen Funken Verstand besaß. Das Gute ist wirklich; das Böse ist unwirklich. Wie einfach! Die Wahrheit ist immer einfach. Der Irrtum scheint die Dinge verwickelt zu machen. Glücklicherweise kommt Heilung nicht dadurch zustande, daß man diese Verwicklungen zu beseitigen versucht, sondern dadurch, daß man sich an die Wahrheit wendet und sich weigert, sich durch einen Widerspruch der Wahrheit täuschen zu lassen.
Beim Lesen der Evangelien haben wohl viele von uns gedacht, daß wir, wenn wir zur Zeit Jesu gelebt hätten, seinem Ruf „Folge mir!” freudig gefolgt wären. Wie eifrig wären wir ihm überall hin gefolgt, hätten unter allen Umständen treu zu ihm gehalten und sein Werk fortgeführt! Der Ruf des Christus ergeht aber an jeden einzelnen von uns auch heute. Und wozu sind wir bereit? Wir werden nicht aufgefordert, mit dem geliebten Meister durch die Straßen Nazareths zu wandeln oder die Hügel Galiläas zu ersteigen; wir sind aber ohne Zweifel dazu berufen, sein Werk fortzuführen. Und wo sollen wir damit beginnen? Sicherlich im eigenen Bewußtsein. Eines andern Leiden zerstören scheint vielleicht eine christlichere Handlung zu sein als die Sünde in sich überwinden. Doch nur durch das eigene gereinigte Denken, nur durch die eigene aufrichtige Hingabe an das Gute, kann man je hoffen, zu vollbringen, was der Christus-Ruf von uns fordert.
Alles, was in unserer Erfahrung als Widerspruch gegen Gott, das Gute, erscheint, muß geheilt werden. Dies ist unser Anteil an der Arbeit zur Erlösung der Welt, unser Teil, den wir zur Verwirklichung dessen beitragen müssen, was „unser gesegnetes, ewiges Heim” ist. Die meisten von uns wissen, was Heimkehr nach einer langen Reise in der Fremde bedeutet. Mit was für einem Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit empfinden wir das Wiedersehen der Gesichter unserer lieben Angehörigen und aller in der Erinnerung gebliebenen Dinge! Wieviel größer aber ist die Freude des Erwachens zu der Erkenntnis unseres wirklichen, geistigen Heims, zu dem Bewußtsein des immer gegenwärtigen Guten, — des Himmels! Da hat der Mensch, als das Kind Gottes, immer gewohnt, und von da kann er nie abirren. Wir haben geträumt, irrig geglaubt und gefürchtet und unter den Täuschungen des sterblichen Denkens gelitten; aber in Wirklichkeit hat der wahre individuelle Mensch stets Gott zum Ausdruck gebracht und sich stets in den Armen Seiner zärtlichen Liebe befunden. Wenn wir uns dessen, was wahr und wirklich ist, deutlicher bewußt werden, tragen wir in natürlicher Weise dazu bei, andere aufzurütteln; und dadurch halten wir mit unserem Verständnis der Wahrheit das auf, was Mrs. Eddy in Unity of Good (S. 11) „die Ströme der Materie oder des sterblichen Gemüts” nennt.
Wie ermutigend gestaltet sich des Tages Arbeit, wenn wir jeden Morgen mit der Gewißheit erwachen, daß wir die Macht zum Ausdruck bringen können, die alle Irrtums formen zerstört! Unser Verhalten gegen diejenigen, deren Fehler uns bis dahin gestört haben, ändert sich. Wir sehen ein, daß es immer an uns liegt, ob wir uns aus der Ruhe bringen lassen wollen oder nicht. Emerson sagt: „Die Macht, die die Dinge haben, mich zu ärgern, gebe ich ihnen”. Wir können für uns Vollkommenheit nicht beanspruchen, während wir uns den Gedanken an eines andern Unvollständigkeit wirklich erscheinen lassen; denn die Versöhnung — des Menschen Einheit mit Gott — schließt Zusammenarbeiten zwischen dem geistigen Menschen und dem geistigen Menschen in sich, die immer mit Gott eins sind.
So lernen wir erkennen, was es heißt, „niemand nach dem Fleisch” zu kennen; und in dem Maße, wie diese Art des Denkens zur natürlichen Gewohnheit wird, entfaltet sich uns die Schöpfung, jede Idee Gottes in Pracht und Herrlichkeit getaucht. Das heißt nicht, daß wir es unterlassen sollen, jeder Irrtumsform, die sich kund zu geben scheint, entgegenzutreten. Im Gegenteil, je mehr wir die Wahrheit verstehen, umso genauer unterscheiden wir zwischen Gut und Böse; doch wir wissen, wie wir dieses zu behandeln haben, wie wir es anfassen und seine scheinbare Tätigkeit durch das Erkennen seiner Unwirklichkeit im Lichte der Wahrheit zerstören müssen. In dem Maße, wie dieses Unterscheiden zwischen dem, was wahr und dem, was unwahr ist, klarer wird, finden wir, daß die sogenannten menschlichen Gedankenströme aufgehalten werden. Das Sehen ist in Wirklichkeit eine geistige Fähigkeit. Darum wird mit klareren Einblicken in die wirkliche Schöpfung unser Begriff von Sehen besser werden.
Die Tatsache, daß die Leute um uns her glauben, das Sehen sei ein Vorgang in der Materie, macht es nicht dazu! Sind wir nicht manchmal so in Gedanken versunken, daß wir nicht sehen, was vor unseren Augen sich abspielt, und nicht hören, was um uns her ertönt? Was sieht oder hört also? Sicherlich nicht die Materie. In unserem gegenwärtigen Zustand bestimmt das menschliche Bewußtsein, ob es von dem, was der Annahme nach um uns her vorgeht, Kenntnis nehmen, oder ob es sich in andere Gedanken vertiefen will. Wenn wir, weil wir von dieser Wahrheit überzeugt sind, uns dafür entscheiden, daß wir von Wahrheit stets sehen und hören können, was für uns nötig und recht ist, weil Sehen und Hören rein geistig sind, dann werden wir von den materiellen Beschränkungen frei sein, die mit den menschlichen Annahmen von Sehen und Hören zusammenhängen.
Laßt uns wachsam sein, daß wir alles zurückweisen, was zerstörerisch und irrig ist, und nur das annehmen, was gut und lieblich ist. Wenn das menschliche Denken nach und nach vom Wahren durchdrungen wird, dann werden unsere Entschließungen höher reichen, wahrer klingen, uns immer freier machen von der Lüge, daß Leben in der Materie sei, und uns dazu befähigen, daß wir beweisen können, daß der, der die Christliche Wissenschaft annimmt und demonstriert, in stets zunehmendem Maße seine Einheit mit Gott, dem Guten, beweisen kann.
