Eine der besonders hervortretenden Erscheinungen des heutigen religiösen Lebens ist die Neigung zur Ausübung des geistigen Heilens. Das Verfahren des geistigen Heilens ging der christlichen Kirche früh verloren; und es wurde erst durch Mrs. Eddys Entdeckung der Christlichen Wissenschaft im Jahre 1866 der Welt wiedergegeben. Sehr viele Jahre hindurch war die Materie in der Tat das einzige beim Heilen der Kranken angewandte Mittel. Zum Gebet hat man wohl nur bei tieferer religiöser Gesinnung oder in der äußersten Not seine Zuflucht genommen; aber es war nicht das Gebet geistigen Verständnisses; denn zu oft wurde Gott als aller Wahrscheinlichkeit nach für das Übel verantwortlich angesehen. Man hoffte, Er könnte nachgeben oder den sogenannten materiellen Gesetzen, die die Ursache und Fortdauer der Krankheit vermutlich bestimmten, entgegenwirken; aber man konnte nicht bestimmt damit rechnen, da Er sich anscheinend von denselben wandelbaren und unsicheren Beweggründen leiten ließ, die die Menschheit kennzeichneten!
Es ist allen, die vorurteilslos in den Evangelien des Neuen Testaments forschen, sofort klar, daß Christus Jesus nicht der Annahme huldigte, daß Gott wandelbar ist und das eine Mal das Gebet erhört, das andere Mal aber nicht. Auch kann man vernünftigerweise nicht annehmen, daß Gott auf die Bitten des Meisters hörte und sie gewährte, weil er Christus Jesus war und nicht jemand anders. Jesu Erfolg im geistigen Heilen beruhte nicht darauf, daß er von Gott besonders begünstigt wurde, sondern auf seinem Verständnis von Gott, dem göttlichen Prinzip, und von dem Gesetz des Prinzips, das alles wirkliche Sein regiert. Jedes einzelne der von ihm vollbrachten erstaunlichen Werke oder Wunder für den menschlichen Sinn, die in den vier Evangelien berichtet sind, und von denen viele Heilungen waren, war das Ergebnis eines genauen geistigen Verständnisses von Gott und Seinem Gesetz, das er auf die ihm sich bietenden Fälle wissenschaftlich anwandte. Ob die Krankheit Blindheit, Taubheit, Fieber, Wassersucht, Aussatz, Gicht, Mondsucht, Blutfluß war, oder ob es sich um Totenerweckung handelte, Jesus wandte das Gesetz des Prinzips an und zerstörte dadurch den Irrtum oder die Irrtümer der Annahme. Und mit dem Überwinden des trügerischen Denkens durch das geistige Verständnis wurde die Gesundheit wiederhergestellt.
Jesus zeigte deutlich, daß Verfahren, das er beim Heilen der Kranken anwandte, nicht auf ihn beschränkt werden sollte, denn bei zwei Gelegenheiten sandte er tatsächlich seine Nachfolger aus, damit sie dieselben Heilungswerke täten, die er selbst vollbracht hatte. Als die Siebzig, die er ausgesandt hatte, zu ihm zurückkehrten und voller Freudigkeit die Ergebnisse ihres erfolgreichen Wirkens mit den Worten berichteten: „Herr, es sind uns auch die Teufel untertan in deinem Namen”, erwiderte er ihnen mit folgenden verheißenden und ermutigenden Worten: „Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch beschädigen”. Trieb Jesus mit den Hoffnungen und Erwartungen der Menschheit ein unredliches Spiel, als er diese Worte sprach, oder lenkte er aus der Tiefe seines Wissens vom göttlichen Sein heraus die Aufmerksamkeit auf die Macht hin, jeder Erscheinungsform des Bösen zu widerstehen und sie zu überwinden, — auf die Macht, die denen zukommen würde, die dasselbe Verständnis von Gott erlangten, das er besaß? Die Christliche Wissenschaft beweist, daß das letztere wahr ist, weil sie diejenigen, die in gewissem Maße dasselbe Verständnis von der Wirklichkeit und von Gottes Gesetz haben, das Jesus besaß, mit Macht ausrüstet, die Annahmen vom Bösen genau in der Weise zu überwinden, wie Jesus es verhieß
Ein anderer Ausspruch Jesu von großer Wichtigkeit lautet: „Und alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubet, werdet ihr's empfangen”. Sicherlich soll das heißen, daß das Gebet, das von festem, unwandelbarem, auf geistiges Verständnis gegründeten Glauben durchdrungen ist, erhört werden wird. So weist der große Wegweiser auf die göttliche Wissenschaft hin, die Jahrhunderte nach seiner Zeit kam durch jemand, der geistig genug gesinnt war, um sich zu dem Verständnis der Allheit Gottes, des Guten, und zur Erkenntnis der Unwirklichkeit des Bösen zu erheben; denn das war im wesentlichen Mrs. Eddys Entdeckung, eine Entdeckung, die in den Aufzeichnungen der menschlichen Geschichte unübertroffen bleibt. Die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft, daß Gott als das göttliche Prinzip besteht, daß sich dieses Prinzip als das unendliche Gute kundtut, und daß darum das sogenannte Böse kein wirkliches Dasein hat — nur ein Trugbild eines mutmaßlichen Gemüts ist, — diese Offenbarung liegt der Wissenschaft allen geistigen Heilens zu Grunde, der Wissenschaft, die dazu bestimmt ist, das einzige von den Menschen angewandte Heilverfahren zu werden.
Mrs. Eddy bezieht sich in ihren Schriften oft unter Benützung von Ausdrücken der Wahrheit auf die heilende Kraft Gottes. So sagt sie auf Seite 259 von Miscellaneous Writings: „Wahrheit ist die Kraft Gottes, die den Kranken und den Sünder heilt, und die auf alle Bedürfnisse des Menschen anwendbar ist”. Wiederum schreibt sie in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”, dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft (S. 152): „Wahrheit hat eine heilende Wirkung, sogar wenn sie noch nicht völlig verstanden wird”. Was ist diese Wahrheit, die eine solche Heilkraft hat? Es ist die Wahrheit über Gottes Allheit, über Gott als das vollkommene Wesen, über Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart und über die Unwirklichkeit von allem, was Gott, dem Guten, ungleich ist. Jede geistige Heilung ist gewissermaßen das Ergebnis der Verwirklichung einer Erkenntnisstufe von Wahrheit, die sich gegen den Irrtum, der die Krankheit verursacht, anwenden läßt.
Bei seinem Bemühen, sich die geistigen Tatsachen des Seins vor Augen zu halten und sie auf das Heilen von Krankheit anzuwenden, hat der Christliche Wissenschafter manchmal das Gefühl, als ob sich ihm eine mächtige Kraft entgegenstellte. Diese scheinbare Kraft ist das sterbliche Gemüt, das beansprucht, in seiner Tätigkeit allumfassend zu sein. Man muß daher mit ihm rechnen und ihm im Denken dadurch entgegentreten, daß man es zuerst als eine trügerische Nachahmung ansieht und dann seine falschen Annahmen durch die Wahrheiten des Seins ersetzt. Unsere verehrte Führerin erklärt in „Wissenschaft und Gesundheit” (S. 243): „Wahrheit hat kein Bewußtsein vom Irrtum. Liebe hat keinen Sinn für Haß. Leben hat keine Gemeinschaft mit dem Tode. Wahrheit, Leben und Liebe sind ein Gesetz der Vernichtung gegen alles ihnen Unähnliche, weil sie nichts verkünden außer Gott”. Das ist die Grundlage, von der aus man jeder falschen Annahme des materiellen Sinnes entgegentreten und sie meistern muß. Die jenigen, die das geistige Heilen ausüben, kennen gut die Arbeit, die sie tun müssen, um das Denken zu reinigen und zu vergeistigen, damit sie die Kranken heilen können. Wenn dies geduldig und standhaft geschieht, folgt oft als unmittelbare Belohnung die Heilung; nie bleibt ein solches Bemühen ohne Erfolg, da jedes Anerkennen der Allheit Gottes dazu beiträgt, die schließliche Erlösung des ganzen Menschengeschlechts herbeizuführen.