Sanftmut ist Stärke, nicht Schwachheit; Demut zeigt sich im Überwinden des Bösen, nicht in der Unterwerfung darunter; Demut in ihrer wahren Natur und Bedeutung bringt Erhöhung. Wenn wir bauen, tun wir gut, jeden Stein, den wir in den Bau fügen, zu untersuchen, sonst können wir uns eines Tags betrogen sehen; denn Steine, die viel zu versprechen scheinen, können sich als unbrauchbar erweisen. Unwissenheit über irgend eine Erscheinungsform des Lebens trägt zur Knechtung der Sinne und Vereitlung des menschlichen Strebens bei. Unwissenheit, deren Einfluß und Ansprüche immer verneinend sind, ist in ihren tückischsten Formen grausam und verheerend; sie ist nie verderbenbringender, als wenn sie Anspruch auf Einsicht erhebt.
Daß man menschlichen Forderungen nachgeben und sich ihnen unterwerfen müsse, um demütig zu sein, ist eine Unwahrheit, die sich von jeher in das Mauerwerk der Charakterbildung einzudrängen versucht hat. Das menschliche sogenannte Gemüt ist geneigt, auf Scheingründe zu hören, die behaupten, man müsse sich unterwerfen und sich erniedrigen lassen, ehe man erhöht werden könne. Ist aber Unwissenheit einer besseren Einsicht gewichen, so verstehen wir, daß wahrer Wert und rechte Erhöhung die Folge eines gehobenen und aufbauenden Denkens, das Ergebnis des Wachstums, der Entfaltung und Entwicklung sind und mit Schwachheit nichts gemein haben.
Die Demut und Einfachheit Christi Jesu bewiesen seine Kraft und seine Größe. Jesus war der demütigste Mensch, den die Welt je gekannt hat; doch er bekundete keine menschliche Schwachheit, keine Erniedrigung des wahren Selbst, kein Sichanbequemen an ungewisse Ziele, keine Unterwerfung unter den Irrtum. Daher besteht kein Grund, warum ein Nachfolger des Christus, der Wahrheit, seine ehrlichen Überzeugungen, seinen aufrechten Sinn, seine eigene hohe Absicht, den vollkommenen Zielen des Meisters sanftmütig und demütig zu folgen, irgend einem Vorwand oder einer Forderung des fleischlichen Gemüts opfern sollte.
Manchmal tun wir gewisse Dinge nicht oder schlagen einen gewissen Weg, der unserem besten Verständnis vom Prinzip gemäß als recht erscheint, nicht ein, nur weil wir fürchten, wir könnten jemand beleidigen oder jemand von unserer Umgebung oder jemand, der uns lieb ist, kränken. Wer so seinen Sinn für das Rechte dahingibt, erlangt vielleicht ein Gefühl vorübergehender Befriedigung, ein Gefühl der Selbstgerechtigkeit; doch dies muß sich schließlich nur als falsche Demut erweisen, die das rechte Streben lähmt. Wir sollten wissen, daß es nie recht ist, sich mit irgend einer Art oder Form des Irrtums in einen Vergleich einzulassen. Und während wir anderen Menschen Freiheit des Denkens und Handelns einräumen und jedermann liebevolle Achtung gewähren, sollten wir doch unsern eigenen höchsten Sinn vom Guten im Bewußtsein unverletzt erhalten.
Sich dem Bösen nicht widersetzen bedeutet durchaus nicht, sich ihm unterwerfen oder vom Irrtum beherrscht sein oder unter irgend welchen Umständen seine hohen Ziele beschmutzen und zertreten lassen. Soweit es an uns liegt, sollten wir mit allen Menschen in Frieden leben; wir sollten stets geduldig, freundlich, mitfühlend und gütig sein; doch wir sollten der Warnung eingedenk sein und uns hüten, unsere Perlen vor die Säue zu werfen, oder das säuische Element der menschlichen Natur in unser Leben eindringen zu lassen.
Demut ist Gehorsam gegen die Wahrheit und die Liebe; sie geht aus dem Verständnis vom Einssein des Menschen mit dem göttlichen Prinzip hervor. Der Prüfstein der Demut Jesu war seine Erkenntnis des Guten und seine Zurückweisung des Bösen, sein Freisein von menschlichem Willen und sein Verständnis des wahren Selbst in Gott. Dies war der Prüfstein der Demut des Meisters; es muß auch der Prüfstein unserer Demut sein; denn die richtige geistige Vergegenwärtigung der Wahrheit enthüllt den wirklichen Menschen, der mit denselben Eigenschaften ausgestattet ist, die dem Meister unumschränkte Macht verliehen und ihn sowohl liebevoll als auch demütig machten.
Wenn wir die Allheit Gottes, die Vollkommenheit Seiner Schöpfung und die Vollständigkeit der göttlichen Liebe, wie sie die Christliche Wissenschaft enthüllt, erkennen, ist weder für Eigendünkel, für Unterwürfigkeit noch für Selbst-Herabsetzung Raum vorhanden. In „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 228) sagt Mrs. Eddy: „Wer wird das Erdreich besitzen? Die Sanftmütigen, die zu Füßen der Wahrheit sitzen, das menschliche Verständnis mit Tränen der Reue netzen und es von den Flecken der Selbstgerechtigkeit, der Heuchelei, des Neides reinwaschen,— diese werden das Erdreich besitzen; denn ‚die Weisheit muß sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern‘”.
Jesus war immer bestrebt, dem Denken des Volkes die wahre Auffassung vom Sein einzuprägen: er hatte das Verlangen, die Menschen so zu lehren, daß sie das Wichtigste in den Vordergrund stellen und die wahre Ansicht vom Leben, von seinen Pflichten und Verantwortlichkeiten, seinen Lasten und Freuden, seinen Erfolgen und Fehlschlägen gewinnen. „Lernet von mir”, rief er aus; „denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig”. Hierin liegt weder Selbsterhöhung noch Selbsterniedrigung. Bei ihm gab es keinen Glauben an menschliche Kraft, kein Vertrauen in sterbliche Verfahren und materielle Annahmen, keine Unterwerfung unter das fleischliche Gemüt. Wie der Vater wirkte, so wirkte er; sein Wunsch war, die Dinge zu wissen, die der Vater weiß, und sie andere zu lehren. Seine Mission war, Freude, Güte und Wohlergehen in der Welt zu bekunden.
Um einen christlichen Charakter zum Ausdruck zu bringen, müssen wir fest entschlossen, stark in der Wahrheit, sein; wir müssen überreich an Einfachheit, Reinheit und Sanftmut sein. Wenn wir in unserem Leben so viel Gnade, Wohlwollen und Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringen, daß wir diejenigen, die um uns sind, ihren eigenen Begriff vom Guten auf ihre Art ausarbeiten lassen — möge uns diese Art gut erscheinen oder nicht —, und dabei doch ruhig bleiben, weil wir wissen, daß nur die göttliche Liebe den Menschen besser machen, unterweisen und regieren kann, so haben wir etwas von Demut gelernt. Erlösung ist immer eine eigene Angelegenheit jedes einzelnen. Sie liegt zwischen unserem sterblichen Sinn, von dem allein wir erlöst werden müssen, und dem göttlichen Prinzip des Seins, dessen richtige Erkenntnis Erlösung von jedem unharmonischen Zustand bedeutet. Bei dem Wachstum und der Entfaltung der Befreiung eines andern erweist sich eine ruhige und ungestörte Umgebung immer als hilfreich; rechtes Denken muß und wird seine Wirkung haben. Doch die Verantwortung für die Erlösung eines andern kann man ebensowenig übernehmen, wie man die Verantwortung für die Lösung der Aufgaben eines andern aus der Mathematik oder der Astronomie übernehmen kann. Wir können ein Kind lehren, daß drei und drei sechs ist; aber wir können dies nicht für das Kind wissen. Wir können es nur für uns wissen. Das Kind muß es für sich durch sein eigenes Verständnis wissen. Und gerade so wie ein Kind, das gleichgültig ist und nicht gern lernt, am schwierigsten zu unterrichten ist, so ist jemand, der nicht erkennt, daß er Hilfe braucht, oder der sich nicht helfen lassen will, am schwierigsten zu erreichen und zu unterstützen.
Wenn wir gütig sein können, ohne nachsichtig zu sein, mitfühlend, ohne den Irrtum zu bemitleiden; wenn wir verzeihen können, ohne das Böse zu schonen; wenn wir ohne Tadel oder ohne jedes Gefühl von Selbstgerechtigkeit urteilen können; wenn wir ohne Aufdringlichkeit weise sein können; wenn wir ohne persönliche Verblendung oder nicht bloß aus rein menschlicher Zuneigung lieben können, dann können wir wissen, daß wir dahin gelangen, wo wir etwas von dem wahren Wesen der Demut verstehen. Wir müssen willig und gehorsam, ehrlich und überzeugungstreu sein, damit unser Bau vollständig und standsicher, schön, gleichmäßig und dauernd werde und dem Vorbild, das der Meister gegeben hat, in Gestalt und Ausdruck entspreche.
