Allen Bibelkennern ist das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter im 10. Kapitel des Evangeliums des Lukas wohl bekannt. Es heißt dort, daß der Samariter dem Beraubten und Mißhandelten die nötige Hilfe leistete: es „jammerte ihn sein”, er „verband ihm seine Wunden” und „führte ihn in die Herberge und pflegte sein”, während „ein Priester” und „ein Levit”, die gerade vor ihm dieselbe Straße hinabzogen und den Verwundeten liegen sahen, einfach „vorübergingen”, mit andern Worten, nicht für seine menschlichen Bedürfnisse sorgten.
In vielen Fällen lehrte Jesus durch Gleichnisse; aber seine Lehre war nicht nur für eine kleine Gruppe von Menschen, auch nicht nur für eine gewisse Zeit, sondern für alle Menschen und für alle Zeiten bestimmt. Daher können wir heute, wenn wir seine Worte beachten, ebenso viel Nutzen daraus ziehen wie diejenigen, die ihn damals hörten. Gerade dieses Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählte Jesus einem Schriftgelehrten, um diesem auf seine Frage, wodurch er das ewige Leben ererben könne, eine Lehre zu erteilen. Daraus, daß dem Schriftgelehrten geraten wurde: „So gehe hin und tue desgleichen”, ist zu schließen, daß sein Mangel an Erbarmen, sein Mangel an Verständnis der wahren Bedeutung des Wortes „Nächster”, sein Ermangeln der Erkenntnis der Notwendigkeit, die Menschen ohne Ansehen der Person zu lieben, ihm die Erkenntnis des ewigen Lebens verschlossen. Viel eher das, was er unterlassen, als das, was er begangen hatte,— eher Unterlassungsirrtümer als Begehungsirrtümer — waren die Hindernisse auf seinem Pfade himmelwärts.
Was für eine Fülle der Freundlichkeit, Sanftmut, Zärtlichkeit, Demut, des Erbarmens und der brüderlichen Liebe der Samariter durch seine Sorge um den Fremden doch zum Ausdruck brachte! Er war weder zu stolz noch zu beschäftigt, dem Notleidenden zu helfen, auch war er in jener Einöde nicht um seine eigene Sicherheit besorgt. Er dachte nur an die Not dieses „Nächsten” und half ihm sofort auf zweckdienliche Art, in einer Weise, die der Verwundete schätzen konnte. Wie verhielt es sich aber mit dem Priester und dem Leviten? Was fehlte in ihrem Bewußtsein und hinderte sie, dem Verwundeten in seiner Not zu helfen? Genau dasseilbe, was im Bewußtsein des Schriftgelehrten fehlte. Jesus zeigte klar, daß es der Schriftgelehrte trotz seiner genauen Kenntnis dessen, was „im Gesetz geschrieben” steht, aufs kläglichste an einer zweckdienlichen Anwendung dieser Kenntnis im täglichen Verkehr mit seinen Mitmenschen fehlen ließ.
Besteht heute die Gefahr, daß wir den Buchstaben der Christlichen Wissenschaft vollkommen kennen, sie aber nicht beweisen lernen — nur Hörer des Worts und nicht Täter werden? Es wird sich uns als hilfreich erweisen, wenn wir uns selber prüfen und uns vergewissern, ob wir Gottes Gesetz durch Selbstaufopferung und selbstlose Liebe zweckdienlich und christlich anwenden, indem wir, wie der Samariter, Notleidende ermutigen und ihnen in ihrer Not helfen, oder ob wir ihnen das besänftigende Wort und die freundliche Tat vorenthalten, indem wir wie der Priester und der Levit dadurch Unterlassungsirrtümer begehen, daß wir „vorübergehen” und uns so aus dem Himmelreich ausschließen. „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan”, sagte der Meister.
Die Christliche Wissenschaft ist die Religion der Liebe. In dem Maße, wie wir ihren Geist in uns aufnehmen, werden die Irrtümer Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Kaltherzigkeit, Selbstsucht in unserem Bewußtsein durch Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Sanftmut, Geduld, Zärtlichkeit verdrängt. Folgende Worte auf Seite 367 im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” übermitteln den erbarmungsvollen Gedanken ihrer Verfasserin Mary Baker Eddy: „Ein freundliches Wort an den Kranken und die christliche Ermutigung desselben, die mitleidsvolle Geduld mit seiner Furcht und deren Beseitigung sind besser als Hekatomben überschwenglicher Theorien, besser als stereotype entlehnte Redensarten und das Austeilen von Argumenten, welche lauter Parodien auf die echte Christliche Wissenschaft sind, die von göttlicher Liebe erglüht”.
Und das ist die Verkündigung, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen, daß Gott Licht ist und in ihm ist keine Finsternis.—1. Johannes 1:5.
