Ehe die Christliche Wissenschaft den Menschen die wissenschaftliche, erleuchtete Denkweise offenbarte, wurden wahre und falsche Gedanken fast unterschiedslos angenommen. Wo das Denken kaum je einsichtsvoll zergliedert oder geprüft wird, herrscht leicht Verwirrung, und diese Gedankenverwirrung kommt im täglichen Leben der Menschen unvermeidlich zum Ausdruck.
Die Christliche Wissenschaft gibt uns die einzig wirkliche Grundlage, von der aus wir den Wert oder den Unwert der Gedanken, die wir beherbergen, messen können. Diese Grundlage ist das unfehlbare und ewige Gemüt, Gott genannt. Der Prophet mußte sie erkannt haben, als er schrieb: „Ich weiß wohl, was für Gedanken ich [für] euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet”. Diese herrliche Erklärung erinnert uns daran, daß nie Gedanken der Furcht, des Leides, der Erregung oder der Versuchung zu Sünde von Gott zu Seinem geliebten Ebenbilde kommen. Seine Gedanken überbringen nur strahlende und unsterbliche Botschaften des geistigen Seins; und diese Gedanken vernichten, wenn man sie beherbergt, unbedingt die Qualen falscher Annahmen; denn Gegensätze können nicht nebeneinander bestehen.
Hat man die erste Stufe des Mangels an Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Gedanken überwunden, so verfällt man vielleicht eine Zeitlang dem ganz entgegengesetzten Fehler, daß man sich vor der sogenannten Macht falscher Annahmen fürchtet. Daher schreibt unsere Führerin auf Seite 252 in „Miscellaneous Writings”: „Die Christliche Wissenschaft sondert das Denken so: Richtige Gedanken sind Wirklichkeit und Macht; falsche Gedanken sind Unwirklichkeit und Ohnmacht, sie sind traumhaft. Gute Gedanken sind machtvoll; böse Gedanken sind machtlos, und sie sollten so erscheinen”. Wie ermutigt fühlt sich derjenige, der durch die Christliche Wissenschaft verstehen lernt, daß ihn trotz scheinbaren Versunkenseins in den Sumpf der Krankheit oder der Sünde die Wissenschaft rechten Denkens in dem Verhältnis, wie er sie sich aneignet, aus seinen Schwierigkeiten, seien sie sittlicher, mentaler oder körperlicher Art, vollständig herausheben kann! Wie Christus, die Wahrheit, sein Denken von Irrtum befreit, so wird sein Körper von Krankheit oder den Folgen der Sündhaftigkeit frei. Ein Kranker kann den Bescheid erhalten haben, daß in seinem Falle die ärztliche Kunst nicht mehr helfen könne. Ein anderer ist vielleicht als unverbesserlicher Sünder verurteilt worden. In beiden Fällen ist dem Leidenden Verzweiflung eingeflößt worden. Beherbergt aber Gott, das göttliche Gemüt, kranke, sündhafte oder Verzweiflungsgedanken über sich oder Seine eigene Widerspiegelung? Gewiß nicht! Da es also in Gott, dem Guten, keinen Mißton gibt, gibt es in Wahrheit keinen verzweifelten Zustand, über den man sich zu grämen braucht. Das Gegenmittel für alle Qual besteht darin, daß wir „Gedanken des Friedens und nicht des Leides” widerspiegeln. Der Christliche Wissenschafter, der sich an die tröstliche Tatsache hält, daß Gott nur gute Gedanken mitteilt, lernt sein Denken unpersönlich, wissenschaftlich zergliedern; er lernt solche Gedanken, die nicht den Stempel des göttlichen Gemüts tragen — mit andern Worten, die nicht wahr sind — unverzüglich zurückweisen.
Braucht man, wenn man ehrlich bestrebt ist, das göttliche Gemüt widerzuspiegeln, sich je gedankenarm, geistlos, teilnahmlos, geistig erschöpft zu fühlen? Nicht, wenn man an die Worte des Psalmisten denkt: „Herr, mein Gott, groß sind deine Wunder und deine Gedanken, die du an uns beweisest. Dir ist nichts gleich. Ich will sie verkündigen und davon sagen; aber sie sind nicht zu zählen”. In dem übervollen Vorratshause des göttlichen Gemüts kann jeder gerade die geistigen Ideen, die er im gegebenen Augenblicke braucht, suchen und finden. Da alles wahre Denken aber auch eine Widerspiegelung der göttlichen Liebe ist, achtet der Christliche Wissenschafter darauf, wie genau er dem Geiste der goldenen Regel in der Stille seines eigenen Denkens gerecht wird; wie wahrhaft er immer von allen anderen so denkt, wie er wünscht, daß sie von ihm denken. Gottes Gedanken segnen alle Menschen ohne Unterschied. „Siehe, zu segnen bin ich hergebracht; er segnet, und ich kann's nicht wenden”. Da dies eine unwandelbare Tatsache ist, so sucht das sogenannte fleischliche Gemüt die Wahrheit des Seins in unserem Denken beharrlich umzukehren, sucht die Sterblichen so zu täuschen, daß sie die Allgegenwart des Guten vergessen.
Wo, fragen wir uns, sind Gottes Gedanken für uns, wenn wir sie vergessen? Diese reinen, befreienden Gedanken sind immer gegenwärtig; insoweit wir aber verführt worden sind, eine Lüge über die Wahrheit des Seins des Menschen zu beherhergen, ist unser Bewußtsein taub gegen sie geworden. Wie die aus der Arche gelassene Taube auf den Wogen der Sintflut keine Ruhestätte fand, so finden auch Gottes Gedanken in dem unruhigen sterblichen Bewußtsein keine Ruhestätte. Weltlichkeit und Sterblichkeit, lehrt die Christliche Wissenschaft, können nur in dem Maße abgelegt werden, wie Abneigung, Haß, tierisches Wesen und Selbstsucht, die scheinbar stofflich verkörpert sind, durch die göttliche Liebe vergehen. Wie ernstlich sollte sich also der Christliche Wissenschafter immer bereit halten, Gottes Gedanken für uns in sein Bewußtsein aufzunehmen, stets eingedenk, daß es „Gedanken des Friedens und nicht des Leides” sind!
