Es scheint zur menschlichen Erfahrung zu gehören, daß jedermann auf seiner geistigen Reise früher oder später bei der Stelle anlangt, die bildlich „das Tal der Entscheidung” genannt worden ist. Mit andern Worten, es scheint unvermeidlich, daß jedermann an einem Punkte anlangt, wo er gezwungen ist, in einer Frage, die so einschneidend und weitreichend ist, daß es scheinen möchte, als würde sein ganzes Leben und vielleicht auch dasjenige anderer Menschen davon berührt, eine wichtige Entscheidung zu treffen, zu einem bestimmten Schluß zu kommen. Mit Recht ist diese Zeit des Zögerns und der Ungewißheit ein Tal genannt worden; denn es liegt am Fuße jener Höhen weiteren Ausblicks und erhabenerer Erkenntnis, die nur erreicht werden können, wenn man diese ruhige Zwischenzeit ernsten und andächtigen Nachdenkens weise durchschreitet.
Mit Recht erklärte der Prophet Joel, „es werden Haufen über Haufen Volks sein im Tal der Entscheidung” (engl. Bibel); denn jeder kommt einmal in seiner Erfahrung dorthin. Manche bleiben lange Zeit zögernd, strauchelnd, ungewiß in diesem Tale, während andere es sozusagen fast mit einem einzigen Sprung zu überqueren scheinen, aus dem einfachen Grunde, weil jeder Mensch sein Problem auf seine eigene Art und Weise ausarbeitet. Aber der Christliche Wissenschafter ist ehrlich bestrebt, den rechten Weg zu sehen, obgleich er zuzeiten von Ungewißheit geplagt sein mag aus Furcht, er könne trotz bester Absichten das Falsche tun und zu denen gehören, von denen unsere geliebte Führerin Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings” (S. 117) geschrieben hat: „Die Ungehorsamen machen ihre Schritte, ehe Gott die Seinen macht, oder sie machen sie, Ihm zu folgen, zu spät”. Aber sie fügt den ermutigenden Rat hinzu: „Überzeuge dich, daß Gott deinen Weg lenkt; dann beeile dich, unter allen Umständen zu folgen”. Wie, fragt der beunruhigte Schüler, kann man sich überzeugen, daß man wirklich von Gott und nicht vom eigenen Willen oder vom Willen eines andern gelenkt wird? Diese Frage hat so offenkundig zwei Seiten mit ausgezeichneten Beweisgründen zugunsten beider Seiten, daß ihre Lösung nicht leicht zu sein scheint. Der gerade und schmale Weg hat einen direkt in „das Tal der Entscheidung” geführt; und man kann die Entscheidung weder vermeiden noch umgehen.
Ist man weise, so setzt man sich einen Augenblick ruhig hin und fragt sich, wie man daraus herauskommen wird. Man muß sich daraus herausdenken. Soviel ist jedem Schüler der Christlichen Wissenschaft klar. Doch sieht er sich um, so werden die Höhen in der Ferne verschwommen und unklar, wie wenn sich ein Nebel der Verwirrung auf das Tal niedersenkt, bis es dem erschreckten materiellen Sinn scheint, als ob es überhaupt keinen Ausweg mehr gebe! Er weiß, daß einer der kritischsten Augenblicke seines Lebens gekommen ist. Es gibt kein Zurück, und er wagt nicht, vorwärts zu gehen. Wenn ihm doch nur jemand sagte, was er tun soll!
Und es gibt Einen, der es ihm sagen wird. Sei dessen gewiß! Denn Gott wird uns nicht Waisen lassen. Unfehlbare Weisheit und Führung stehen unmittelbar zur Verfügung; und der einzige Grund, warum wir sie nicht sehen, ist, daß wir sie nicht richtig suchen. Als Hagar mit ihrem Söhnchen in die Wüste geschickt worden und ihr dürftiger Wasservorrat erschöpft war, setzte sie sich, wie wir lesen, nieder und weinte, während die ganze Zeit ein Wasserbrunnen so nahe war, daß sie ihn von dort aus, wo sie saß, hätte sehen können, wenn ihre nutzlosen Tränen ihr nicht den Ausblick getrübt hätten. „Und der Engel Gottes rief vom Himmel der Hagar und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht. ... Und Gott tat ihr die Augen auf, daß sie einen Wasserbrunnen sah”. Ihr eigenes Hilflosigkeitsund Furchtgefühl womöglich noch im Verein mit Ärger und Groll gegen diejenigen, die für ihre mißliche Lage verantwortlich schienen, hatten sie gehindert, die Lösung ihres Problems zu sehen.
Daher sollte jeder, der sich in dem mentalen Miasma des „Tales der Entscheidung” verloren glaubt, vor allen Dingen aufhören, sich selber zu bemitleiden. Es ist auffallend, wie bei dieser veränderten Haltung gegenüber der Lage der mentale Nebel sich hebt und sich allmählich verzieht. Der Wanderer sieht nun, daß er keine andere Entscheidung zu treffen hat, als Gott mehr zu vertrauen. Ist ihm dies gelungen, so hat er einen guten Anfang gemacht. Der Nebel ist verschwunden, und das Licht der Wahrheit überströmt mild das Tal. Er wird nicht mehr von Ungewißheit gequält, ist nicht mehr schlaflos wegen Sorge, beladen und niedergedrückt durch die Zentnerlast persönlicher Verantwortlichkeit. Er weiß, daß er keinen Fehler machen kann, da Gott ihn führt; und ein Gefühl unbeschreiblichen Friedens überkommt ihn, eine plötzliche Erleichterung, die der Erkenntnis entspringt, daß „die Herrschaft auf seiner Schulter ist”,— nicht auf der Schulter irgend eines Sterblichen. Wenn man über diese Dinge nachdenkt, tritt Dankbarkeit an Stelle von Entmutigung, Zuversicht verdrängt Ungewißheit, ein ruhiges Vertrauen in die Allmacht und Allgegenwart des Guten vertreibt Pein und Angst, und freudig beginnt man sich nach dem Wasserbrunnen umzusehen, von dem man nun weiß, daß er in unmittelbarer Nähe ist.
Hier könnte jemand einwenden: Wie kann ich denn bei dem heute mir vorliegenden Problem dies alles praktisch anwenden? Wie werden mir Gottes gütige Absichten so klar, daß ich nicht verfehlen kann, sie zu verstehen? Nichts kann diese Fragen so kristallklar beantworten wie das, was Mrs. Eddy auf Seite 152 in „Miscellaneous Writings” schreibt: „In Seinen Hafen der Seele gelangt kein Element der Erde, das Engel austreibt, das die rechte Eingebung, die dich sicher heimführt, zum Schweigen bringt”. Bei sorgfältiger Zergliederung bringt diese Erklärung sicher manchem beunruhigten Herzen Ruhe; denn sie macht in erster Linie klar, daß die göttliche Weisheit, die unsern Weg lenken soll,— die geistige Eingebung, „die dich sicher heimführt”,— im geistigen Bewußtsein schon gegenwärtig ist. Wir brauchen uns nicht aufzumachen, sie zu suchen. Wir brauchen sie nicht in allen Richtungen zu suchen. Sie ist als Teil unseres geistigen Vermächtnisses bereits bei uns und wartet nur darauf, verstanden zu werden. Hierzu erklärt Mose: „Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen noch zu ferne noch im Himmel, daß du möchtest sagen: Wer will uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseit des Meers, daß du möchtest sagen: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust”.
Die richtige Antwort für jedes Problem ist im göttlichen Bewußtsein bereits vorhanden, geradeso wie die richtige Antwort zu jeder Rechenaufgabe schon besteht, ehe das Kind in der Schule auch nur ein Schulbuch aufschlägt. So verhält es sich mit unseren menschlichen Angelegenheiten. „Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören”, lautet die göttliche Verheißung. So kompliziert, so verwickelt, so verschlungen, verstrickt und verworren eine Lage dem menschlichen Sinn auch scheinen mag, die Antwort ist in der Wahrheit bereits vorhanden. Unsere Verantwortung besteht darin, daß wir dies nicht vergessen, daß wir die Wahrheit wissen, sie behaupten und uns angesichts jeder erdenklichen Schwierigkeit an sie klammern. Die rechte Eingebung ist eine stets gegenwärtige und stets zur Verfügung stehende geistige Idee,— der Engel, der den Weg weist und heute, wie vor alters zu Hagar, flüstert: „Fürchte dich nicht”.
Mrs. Eddy erklärt „Engel” u.a. als „Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen; geistige Eingebungen, die rein und vollkommen sind” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 581). Wer in einer Frage eine Entscheidung zu treffen hat, wird jedoch für die Klarheit der Botschaft dieser Engel nicht empfänglicher werden, noch das erhabene Wirken des göttlichen Willens in menschlichen Angelegenheiten erleichtern, wenn er das Für und Wider seiner Frage unterschiedslos mit anderen erörtert. Wohlwollende Freunde mögen ihm teilnahmsvoll zuhören und ihm gutgemeinten Rat erteilen; aber in einem Gewirr menschlicher Meinungen kann man die Engel nicht hören. Für jemand, der eine Entscheidung zu treffen hat, ist es besser, sich ruhig hinzusetzen, schärfer auf die Stimme Gottes zu horchen und weniger zu reden. Er hat vielleicht erkannt, daß die rechte Eingebung gegenwärtig ist. Was hält ihn dann davon ab, sie zu hören? Es ist, wie unsere Führerin in der oben angeführten Stelle aus „Miscellaneous Writings” schreibt, ein „Element der Erde”, das Engel austreibt. Offenbar besteht dann der nächste Schritt darin, daß man sein Denken gründlich untersucht und alles daraus austreibt, was man Gottunähnliches darin findet,— alles, was einen hindert, die Botschaft der unfehlbaren Leitung zu hören.
Was für ein „Element der Erde” ist es, das einem den klaren Ausblick versperrt, so daß man den Ausweg nicht sehen kann? Es können viele Irrtümer sein; denn das sterbliche Gemüt sagte einmal von sich: „Legion heiße ich”. Vielleicht bedient es sich der Argumente der Furcht, des Stolzes, des Eigennutzes, des Geizes, des Ehrgeizes, des Mißtrauens, der Unehrlichkeit, der Sorge, persönlicher Zuneigung, der Feindseligkeit, des menschlichen Willens, der Eifersucht, der Selbstsucht, der Entmutigung oder irgend einer der unzähligen Annahmen der Begrenzung. Laßt uns die hemmenden Irrtümer, in was für einer unschönen Verkleidung sie auch auftreten mögen, einen nach dem andern als unwürdig, unwahr und nicht zu Gottes Idee, dem Menschen, gehörig entschlossen austreiben!
Der Mensch als Gottes Ebenbild ist nie sterblich, umgrenzt, durch endliche Einschränkungen gehindert oder gehemmt. Er kann durch kein Gesetz der Begrenzung gebunden sein; denn es gibt kein solches Gesetz. Man braucht sich nicht zu fürchten, sein Geburtsrecht als Sohn Gottes zu beanspruchen. Den wirklichen Menschen quält nie Unentschlossenheit. Er ist die Kundwerdung und Widerspiegelung alles dessen, was seinem Schöpfer angehört, was gut und wahr und wirklich ist, der vollständige und vollkommene Ausdruck Gottes, des göttlichen Gemüts, das alles weiß, alles sieht, alles tut und das All in allem ist. Der geistige Mensch widerspiegelt die unfehlbare Weisheit, und um recht zu denken und recht zu handeln, müssen wir verstehen, daß dies sein gnädiges Erbteil, sein Geburtsrecht der Herrschaft ist. Gehorsam, freudig, frei, unbegrenzt, besteht er als die vollkommene Widerspiegelung Gottes.
Wenn wir über dies all es und noch vieles andere in dieser Hinsicht nachdenken, können wir sicher sein, daß sich das rechte Ergebnis jeder Lage in bestimmten und klar erkannten Handlungen nach und nach ausprägen wird. Wir werden nicht mehr fürchten, daß wir einen Fehler machen werden. Auf welchem aufwärts führenden Pfade wir auch „das Tal der Entscheidung” verlassen, unsere Schritte werden wie von einer liebevollen Hand gewiesen friedlich und sicher sein. Dankbar, froh, mit einem Lied im Herzen dringen wir vor; denn wir haben stets die freudige Gewißheit, daß wir, welchen Weg wir auch einschlagen mögen, nicht fehlgehen können, da wir jener geistigen Eingebung gehorchen, die uns „sicher heimführt”.
