„Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen”, sagte Christus Jesus, eingedenk, daß die Sterblichen sich immer gern Vorratshäuser und Speicher bauen, um ihre angehäuften irdischen Schätze und Gewinne darin aufzubewahren. Durch Selbstsucht erlangte sogenannte Schätze sind jedoch keine wirklichen Schätze. Ihr Besitzer hat vergängliche Reichtümer gesammelt und ist von Furcht erfüllt, er könne sie verlieren, oder Diebe könnten „nachgraben und stehlen”; und Furcht ist ohne Zweifel der größte Dieb — die Furcht, daß man verlieren könne, was man für seinen Besitz, seinen falschen Besitz hält.
Die Welt trachtet beständig nach Schätzen irgend welcher Art, nach Glück, Reichtum, Beliebtheit, Ruhm. Sie baut fortwährend Luftschlösser und träumt von materieller Befriedigung und Glückseligkeit. Die Jugend zieht voll rosigen Strebens auf dem Wege materieller Hoffnungen hinaus, um Erfolg zu suchen; solange ihre Pläne aber auf Eigennutz, nur auf persönlichem Gewinn beruhen, wird ihr Vorratshaus auf unsicherem Grunde stehen.
Es gibt aber einen geistigen Schatz, der erworben und festgehalten werden kann, obgleich der Weg, auf dem er zu finden ist, oft durch Erfahrungen führt, die dem menschlichen Sinn bitter vorkommen; denn das Menschenherz hält hartnäckig am materiellen Wege fest. Die Menschen sehen oft nicht, daß sie Selbstsucht überwinden müssen, wenn sie den Eingang zum Vorratshause finden wollen, das von himmlischen Reichtümern schon voll ist, „ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel”. Allerdings muß ein Preis bezahlt werden für diesen Schatz, der nicht verblassen, die Freude, die nicht vergehen kann. Der Preis ist das Aufgeben der falschen Auffassung des Selbst sowie weltlicher Bestrebungen und Ziele und das Verlassen alles Irdischen um Christi, der Wahrheit, willen. Unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy schreibt auf Seite 79 in „Retrospection and Introspection”: „Nicht durch bloßes Hören erkennt und liebt man geistige Wahrheit, noch erfaßt man sie durch die Erlebnisse anderer. Wir sammeln geistige Ernten von unseren eigenen materiellen Verlusten. In dieser verzehrenden Hitze werden falsche Bilder auf der Leinwand des sterblichen Sinnes vernichtet. So verblaßt die unterliegende materielle Färbung bis zur Unsichtbarkeit”.
Jeder Sterbliche, der die Welt betrachtet, sieht seine eigenen Begriffe. Zwei Menschen, die offenbar dieselbe Umgebung, dieselben Freunde, Beziehungen und Vorteile haben, können über Leben und Glück ganz verschieden denken. Das Denken des einen ist vielleicht durch Unzufriedenheit, Unlauterkeit, Haß und infolgedessen durch Leiden und Trübsal getrübt. Da selbstsüchtiges Selbstbedauern und Undankbarkeit in ihm herrschen, können ihm sogar der Himmel, der Sonnenschein, der Gesang der Vögel unschön, glanzund reizlos erscheinen.
Ein anderer erlangt durch geistiges Denken eine andere Ansicht. Seine Gedankenwelt ist hell und klar und strömt von Freude und Dankbarkeit, Reinheit und Wohlwollen über. Er tritt allen ohne Unterschied mit Liebe und Güte entgegen und befreit seine Mitmenschen von ihren Lasten. Er hilft anderen den Vorhang falschen Glaubens lüften, damit das Licht geistigen Verständnisses ins Herz gelangen kann. Sein geistiges Denken vertreibt die Düsterkeit und bringt liebliche Zufriedenheit und freudige Inspiration mit sich. Als Bote des Himmels verbreitet er Hoffnung und Mut; denn durch sein beharrliches Wissen der Gegenwart und Allheit Gottes siegt er über Versuchung und vereitelt die Tücken der Sünde. Die Übel und Unruhen des materiellen Sinnes erscheinen ihm nicht gewichtig, weil er gelernt hat, das Licht des Himmels, das Licht geistigen Verständnisses, das das Böse als unwirklich und machtlos bloßstellt, in die menschliche Erfahrung zu bringen.
Arbeiter in unserer Bewegung erwachen zuweilen zu der Tatsache, daß sie etwas, was sie bei anderen ganz unverkennbar als Übertretung beobachten, in erster Linie im eigenen Denken behandeln müssen. Mit zunehmendem geistigem Verständnis scheinen sich oft allgemeine falsche Annahmen im Umgang mit anderen Menschen zu zeigen. Wie ein in allen Richtungen spielender Scheinwerfer sein Licht auf gefährliche Sandbänke wirft, die in der Finsternis vorher unsichtbar waren, so kann geistiges Licht die eine oder andere Form des Irrtums im menschlichen Bewußtsein aufdecken. Vielleicht herrscht Furcht vor Krankheit oder einer Seuche, Haß, Eifersucht oder vernichtender Tadel, und es kann den Anschein haben, als sei es einem beschieden, daß man diesen Annahmen überall, wohin man kommt, begegnen müsse. Der falsche Glaube möchte eine unzerstörte Unwahrheit mit kühner Hand auf die Tafel des menschlichen Bewußtseins schreiben. Und genau wie man durch rußiges Glas eine dunkle Welt vor sich sieht, so kann man, wenn man nicht auf der Hut und wachsam ist, durch den Nebel des unzerstörten falschen Glaubens blickend verfehlen, die Wahrheit über diejenigen zu sehen, mit denen man in Berührung kommt. Doch das Licht dämmert, und der treue, standhafte Schüler wird durch die verschiedenen Tücken des persönlichen Sinnes nicht lang getäuscht. Er entfernt das rußige Glas falschen Glaubens — sieht sich vor, daß, soweit er in Betracht kommt, das sogenannte Böse nicht persönlich gemacht werden soll. Er denkt nicht mehr, daß diese Irrtümer in anderen vorhanden seien; denn er weiß, daß der einzige Ort, wo das Böse je scheinbar vorhanden sein kann, in einem falschen Bewußtseinszustande ist, der eine Lüge wirklich erscheinen läßt. Das Böse ist nicht in Gottes Weltall zu finden; diese falschen Gedankenbilder nehmen scheinbar nur in den unwahren Annahmen des persönlichen Sinnes Gestalt an.
Wird ein schadhafter Film benützt, so erscheinen die Bilder auf der Leinwand fehlerhaft, mag diese noch so weiß und rein sein. Der trübe Film muß durch einen klaren ersetzt werden, wenn klare Bilder auf der Leinwand erscheinen sollen. So muß auch unser Bewußtsein klar und rein, vom persönlichen Sinn ungetrübt sein, damit das Licht der Wahrheit seine Herrlichkeit ungehindert darein ergießen kann. Das Denken muß von unfreundlichem Tadel, von Verdammung, vom Glauben an Krankheit und von Furcht davor gereinigt werden. Gott kennt die Übel nicht, die nur der falsche Sinn erdenkt. Warum sollen wir also kostbare Zeit damit vergeuden, daß wir über etwas, was nie geschaffen wurde, nachdenken und reden?
Wie viele sind sich darüber klar, daß das Himmelreich, jenes unendliche Vorratshaus des Friedens, der Lauterkeit und des Glücks, in erster Linie im Bewußtsein des einzelnen weilen muß, wenn es je allgemein erlangt werden soll? Solange Selbstsucht und Weltlichkeit der Annahme nach darin herrschen, verbergen sie dem Blick die reine Atmosphäre der Seele. Was ist aber die Folge, wenn man in seinem ganzen Denken vom Prinzip, von Gott, dem unendlichen Gemüt, ausgeht? Ein solch klares, reines, rechtes Denken bildet höhere und bessere Begriffe; es reinigt das Bewußtsein, indem es Ungerechtigkeit und Eigennutz verdrängt. So webt geistiges Denken bei seinem Fortschreiten den ungenähten Rock der Vollkommenheit, indem es den Sterblichen einen höheren Begriff von Charakter entfaltet und seine eigenen harmonischen Zustände schafft.
Wenn daher der Weg finster scheint und unwürdige Schätze sich als wertlos erweisen, wenn das Denken voller Reue über ungenützte Gelegenheiten ist, wenn die Anstürme des persönlichen Sinnes sich beharrlich behaupten, ist es die liebliche Aufgabe des Christlichen Wissenschafters, sich von der Düsterkeit, den Enttäuschungen und Fehlschlägen einer falschen Selbstheit abzuwenden und an den hellen und heiteren Weg zu denken, von dem der Mensch in Gottes Gleichnis nie abgeirrt ist. Wendet er sich ihm zu, so sieht er sein eigenes strahlendes geistiges Selbst vom Vater ausgehen; und indem er diese Quelle sucht, entdeckt er die ewige Einheit zwischen Gott und dem Menschen. Er findet, daß die unerschöpflichen Schätze des Vaterhauses bei jeder Anstrengung, jeder Überwindung, jeder Beseitigung eines Widerstandes die Wohnstätte, die ihm einst sterblich schien, still und allmählich in eine Wohnund Ruhestätte für Engel umgestaltet haben.
