Viele, die sich mit Religion befassen und darüber schreiben, geben zu, daß das vierte Evangelium den aufrichtigen Wahrheitssucher mehr anspricht als irgend ein anderer Teil des Neuen Testaments. Hat ein unvoreingenommener Schüler die Einleitung in den ersten 18 Versen dieses Evangeliums sorgfältig gelesen und ihre tiefe geistige Bedeutung erfaßt, so kommt er immer mehr zu der Überzeugung, daß er in Johannes gleichsam von Angesicht zu Angesicht einen Augenzeugen der Ereignisse bis zu jenem im 21. Kapitel geschilderten wunderbaren „Morgenmahl” vor sich hat, das Mrs. Eddy auf Seite 34 und 35 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” geistig ausgelegt hat.
Jemand hat vom Apostel Johannes gesagt: „Das Herz des Johannes erreichte die strahlende Höhe, auf der der Glaube thront, mit einem Sprung”. Ja, wir finden in seinem Evangelium sogar den bestimmten Beweis, daß er den unvermeidlichen Widerstreit zwischen der Wahrheit und dem Irrtum, zwischen dem Geist und dem Fleisch klar erkannte und in nicht mißzuverstehender Sprache die immer tiefer werdende Kluft zwischen denen, die in religiöser und körperlicher Hinsicht materielle Mittel und Wege befürworteten, und der rein geistigen Lehre Christi Jesu aufzeichnete. Christliche Wissenschafter finden, wenn sie sich in das 4. Evangelium vertiefen, daß, je größer die Beweise waren, die der Meister bis zur Auferweckung des Lazarus erbrachte, desto nachdrücklicher der Vorsatz wurde, ihn und sein Werk zu vernichten.
Es sei hier bemerkt, daß ein tieferes Eindringen in das 4. Evangelium den Wert der anderen Evangelien in den Augen des Schülers nicht herabmindert sondern eher erhöht; der Bericht des Johannes ist jedoch darin einzigartig, daß er weniger materielle Einzelheiten enthält und die unschätzbaren Unterredungen wiedergibt, die das Denken und Verlangen des Wahrheitsuchers vergeistigen, was beweist, daß sie göttlich eingegeben sind.
Das 2. Kapitel des Evangeliums des Johannes enthält den Bericht über die Verwandlung von Wasser in Wein, die als „das erste Zeichen” Jesu genannt wird, und als er bald darauf nach Jerusalem kam, trieb er die Händler aus dem Tempel. Im 3. Kapitel finden wir die wunderbare Unterredung des Nikodemus mit Jesus, wobei Nikodemus ihn rückhaltlos als „einen Lehrer von Gott gekommen” anerkannte. Wäre die Erzählung nicht so klar und natürlich, so könnte uns die plötzliche Wendung überraschen, die Jesus der Unterredung gab, als er mit Bestimmtheit erklärte, daß ein sterblicher, körperlicher Mensch „vom Fleisch geboren” nicht in „das Reich Gottes” kommen kann. Und dieser Erklärung ließ er die Forderung folgen: „Ihr müsset von neuem geboren werden”.
Das nächste Kapitel berichtet Jesu Gespräch mit der Samariterin, die versuchte, sich mit ihm über Rassenund Glaubensunterschiede auseinanderzusetzen, als er sie um einen Trunk Wasser bat. Dem trat Jesus mit jener Erklärung entgegen, die mit unwiderleglicher Macht durch alle Zeiten widerhallt: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten”. Diese Worte liefern uns den Schlüssel zu seiner ganzen Lehre und zu seinen Heilungswerken. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Galiläa heilte er den Sohn des Königischen und nach seiner Rückkehr nach Jerusalem den Mann, der 38 Jahre krank gewesen war. In diesem Falle trat der unvermeidliche Widerstreit zwischen materieller Annahme und geistigem Gesetz offen zutage, ja, er nahm eine solch erbitterte Form an, daß die Juden Jesus zu töten trachteten, weil er den Sabbat entheiligt und gesagt hatte, Gott sei sein Vater. Des Meisters Verteidigung der Beschuldigung gegenüber, daß er den Sabbat nicht gehalten habe, war: „Ich habe den ganzen Menschen am Sabbat gesund gemacht”.
Heutzutage glauben viele Leute, sie seien bereit, Heilung auf Christi Art zu empfangen; zu Jesu Zeiten waren sie jedoch nicht bereit, weil das Heilen, das er ausübte und lehrte, nicht bloß darin bestand, daß es von Leiden befreite, sondern forderte, daß sich das menschliche Denken über das Materielle zur geistigen Wirklichkeit und zum Wirken des geistigen Gesetzes erhob. Als sich Mrs. Eddy über die heilende Kraft der Wahrheit klar wurde und sie in vielen Fällen bewiesen hatte, wurde sie zu der Einsicht gezwungen, daß Christi Christentum in keinem Zeitalter aufgerichtet werden kann, wenn die Wahrheit nicht vom Irrtum getrennt wird. Sie mußte auch erkennen lernen, daß das sterbliche Gemüt oder der fleischliche sinn, um den Bibelausdruck zu gebrauchen, im Beweisen der Wahrheit seine Vernichtung sieht; und sie nannte seinen Widerstand gegen die Forderungen des geistigen Gesetzes „boshaften tierischen Magnetismus” (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 357). Oberflächliche Denker und unaufrichtige Schüler der Christlichen Wissenschaft verurteilten sie, weil sie diesen Irrtum aufdeckte. Aber sie drang weiter; denn sie wußte, daß nur dann das Reich Gottes auf Erden aufgerichtet wird und Sünde, Krankheit und Tod überwunden werden, wenn die Christlichen Wissenschafter bereit und willens sind, der Forderung Jesu an seine Jünger nachzukommen und „Schlangen zu vertreiben”.
Befassen wir uns weiter mit dem 4. Evangelium, so lesen wir von der Speisung der fünftausend Mann, der unmittelbar die Stillung des Sturmes folgte, wobei Jesus auf dem Meere wandelnd sich den erschreckten Jüngern näherte. Das 6. Kapitel, das 71 Verse hat, berichtet diese Begebenheit und außerdem seine wunderbare Lehre hinsichtlich des Brotes, „das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben”. Es ist nicht verwunderlich, daß einige der Zuhörer ihn baten: „Herr, gib uns allewege solch Brot”; aber wir finden, daß wenige bereit waren, das Brot zu empfangen, zu dem ihnen der Meister so gern verhelfen wollte, und manche murrten daher über ihn und andere erklärten: „Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?” Es hat den Anschein, daß sogar einige seiner eigenen Jünger murrten; und dies veranlaßte ihn, die geistige Forderung auszusprechen: „Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich rede, die sind Geist und sind Leben”. Im 66. Vers lesen wir: „Von dem an gingen seiner Jünger viele hinter sich und wandelten hinfort nicht mehr mit ihm”. Diejenigen, die sich über die Einwendungen des sterblichen Gemüts erhoben und der Schlinge des tierischen Magnetismus entgingen, klammerten sich an die Wahrheit, die Jesus sie lehrte, und ihre durch ihr inniges Verhältnis zu ihrem Meister verherrlichten Namen sind heute noch unvergessen.
Das 7. Kapitel beginnt mit der Erklärung, daß Jesus Judäa verließ, „darum daß ihm die Juden nach dem Leben stellten”, während das sterbliche Gemüt in Galiläa einen dienstfertigen Kanal in seinen Angehörigen fand, die ihn drängten, nach Judäa zurückzukehren, wo das Priestertum auf eine Gelegenheit wartete, seinem Lehren und Heilen ein Ende zu machen. Obgleich er ihnen gesagt hatte, daß er in Jerusalem Haß begegnen werde, ging er etwas später doch dorthin, lehrte unerschrocken im Tempel, führte ihnen sogar ihre falsche Treue gegen Mose vor Augen und fragte sie: „Warum sucht ihr mich zu töten?” Dies stellten sie in Abrede und sagten: „Du hast den Teufel; wer sucht dich zu töten?” In unserer Zeit wurde Mrs. Eddy bitter verurteilt, weil sie die Absicht des Irrtums, sie und ihr Werk zu vernichten, aufdeckte.
Der Bericht sagt weiter, daß die Pharisäer und Hohenpriester zu jener Zeit Knechte aussandten, daß sie Jesus griffen, die aber, als sie seiner wunderbaren Lehre zuhörten, (zweifellos in dem Bemühen, Beweise gegen ihn zu finden), zurückkehrten und erklärten: „Es hat nie ein Mensch also geredet wie dieser Mensch”. Dies trug ihnen scharfe Verurteilung ein; aber Nikodemus befürwortete wenigstens ein gerechtes Verhör, und der Aufruhr legte sich vorübergehend.
Als nächste Handlung im Drama der Erlösung der Welt haben wir den Fall des Weibes, das im Ehebruch ergriffen war. Jesus hörte die Beschuldigung an und antwortete nicht. Er bückte sich nur und schrieb auf die Erde, vielleicht um die Ankläger daran zu mahnen, wie rasch die Stürme der Leidenschaft für den Durchschnittssterblichen die Forderungen des Sittengesetzes verwehen. Die Ankläger bestanden jedoch auf einer Entscheidung, und er gab sie! Sie lautete, daß nur, wer ohne Sünde ist, berechtigt sei, ein Urteil zu fällen. Die Ankläger, angesichts des göttlichen Gesetzes selbstangeklagt, entfernten sich „einer nach dem andern”, und die göttliche Reinheit Jesu fällte das Endurteil mit den Worten: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!”
Am Schlusse der langen Auseinandersetzung im 8. Kapitel lesen wir, daß einige der Anwesenden versuchten, ihn zu steinigen; aber er entwich ihnen und heilte anscheinend fast unmittelbar darauf einen Blindgeborenen. Es ist beachtenswert, daß wir Jesu Erklärung: „Ich bin das Licht der Welt” im Zusammenhang mit dem Fall der Sünderin und noch einmal bei dem Fall des Blindgeborenen finden; und die Erleuchtung des Bewußtseins des vormals Blinden ist wahrlich wunderbar, wenn wir sie verfolgen bis zu seiner Anbetung des ihm von Christus Jesus geoffenbarten „Sohnes Gottes”. Der Widerstreit zwischen der Wahrheit und dem Irrtum wurde jedoch heftiger, daher entwich Jesus seinen Feinden abermals und ging nach Bethabara.
Das 11. Kapitel ist für Christliche Wissenschafter höchst lehrreich; denn wir finden im vorangehenden Kapitel den einleuchtenden Grund, warum Jesus nicht sofort dem Ruf der Schwestern des Lazarus folgte, sondern sich noch zwei Tage an dem Ort aufhielt, wo er war, zweifellos in der Erkenntnis, daß der Irrtum, der ihn oder sein Werk nicht hatte vernichten können, sich in das Haus seiner geliebten Freunde eingedrängt hatte. Als er schließlich sagte, sie müßten wieder nach Judäa gehen (Bethanien lag bei Jerusalem), erhoben seine Jünger Einspruch, weil sein Leben dort bedroht worden war; aber er bestand darauf, und es lohnt sich, über den Bericht der Auferweckung des Lazarus aus dem Grabe nachzudenken von dem strauchelnden Glauben der Schwestern an bis zu dem von der Höhe geistigen Verständnisses, der vollen Erkenntnis der göttlichen Allgegenwart, ergangenen Ruf: „Lazarus, komm heraus!”
Wir lesen, daß die Behörden unmittelbar nach diesem wunderbaren Beweis „einen Rat” hielten und erklärten, daß Jesu Werk aus religiösen und politischen Gründen aufhören müsse, weil sonst „alle” an ihn glauben würden. Der Hohepriester erklärte in der Tat: „Es ist uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe”. Damit waren sie einverstanden, und sie beschlossen, ihn umzubringen. Jesus zog sich daher in die Stadt Ephrem zurück, kam aber bald darauf nach Bethanien und saß mit Lazarus zu Tische. Hier können wir übergehen, daß Maria Jesu Füße mit „Salbe von ungefälschter, köstlicher Narde” salbte, und beachten, daß viel Volks zugegen war, um Jesus zu sehen, und auch den Mann, den er aus dem Grabe auferweckt hatte. Wir lesen hier, daß die Hohenpriester berieten, wie sie auch Lazarus umbringen könnten, weil seinetwegen so viele an Jesus glaubten. Ist es verwunderlich, daß viele kamen, um die Hauptpersonen in diesem großen Drama menschlicher Erlösung zu sehen? Aber wie viele waren anwesend, denen „der Arm des Herrn” geoffenbart wurde? Es ist gut für die Welt, daß die Menschen jetzt aufwachen und das Christusheilen wieder suchen und finden.
Lesen wir im 4. Evangelium weiter, so finden wir, daß Jesus bald nach der Auferweckung des Lazarus gekreuzigt wurde. Dem kurzen Siegeseinzug in Jerusalem folgte rasch Jesu Gefangennahme und Verurteilung. Es schien notwendig, einen Verräter unter seinen unmittelbaren Nachfolgern zu finden, und die Bosheit konnte in dem geldgierigen Judas einen Sterblichen erreichen, der nach den schrecklichen Gewissensbissen zu schließen, die seinem Erdenleben ein Ende machten, eher schwach als boshaft war. Des Petrus kurzer Versuch, seinen Meister mit dem Schwert zu verteidigen, war umsonst; und als die Not am größten war, verleugnete Petrus den Meister. Ein römischer Kriegsknecht hätte zweifellos bei seinem Hauptmann ausgehalten und wäre mit ihm gestorben; er wäre aber nicht unter dem verblendenden Einfluß des boshaften tierischen Magnetismus gestanden, vor dem Jesus seine Jünger gewarnt hatte. Der Kriegsknecht stand im Dienste der Welt, und Jesus hatte gesagt: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb”. In der Tat erhoben sich die Jünger Jesu erst über das sie beherrschende starre Furchtgefühl, als seine Auferstehung ihnen bewies, daß das Leben todlos ist. Mrs. Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 34): „Seine Auferstehung war auch ihre Auferstehung”.
In der Geschichte der Jünger nach ihres Meisters Auferstehung und Himmelfahrt in der Apostelgeschichte finden wir keine Spur mehr von der Furcht, die sie während seines Verhörs beherrschte. Ihr unerschrockenes und weises Verfechten der Wahrheit, die Jesus sie gelehrt hatte, setzte sogar die Obersten in Erstaunen, die ihre Verteidigung anhörten, nachdem sie gefangen genommen waren, weil Petrus und Johannes den Lahmen vor des Tempels Tür geheilt hatten. Und Petrus legte sogar dem Volk das an Jesus begangene Verbrechen zur Last mit den Worten: „Den Fürsten des Lebens habt ihr getötet. Den hat Gott auferweckt von den Toten; des sind wir Zeugen”.
Das 20. Kapitel des Evangeliums des Johannes schließt mit der Erklärung: „Auch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet, Jesus sei Christus, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen”.
