Das Wort „Einfachheit” hat verschiedene Bedeutungen; aber hier ist es gebraucht im Sinne von offen, aufrichtig, natürlich, wahr, frei von List oder Zweideutigkeit, ungeziert oder ungekünstelt. Man kann sich der Einfachheit im Reden, Handeln und Benehmen befleißigen; aber am reinsten ist sie hinter den mit dem Schlüssel der Liebe zu öffnenden Toren der Wahrheit zu finden. Unwissenheit wird zuweilen, menschlicher Verstand dagegen selten mit Einfachheit verwechselt; und doch hat Einfachheit nichts mit Unwissenheit gemein, während menschlicher Verstand demütig stolz sein kann, wenn er auf Verwandtschaft mit Einfachheit Anspruch erheben kann. Als Christliche Wissenschafter können wir in wissenschaftlicher Einfachheit mehr sehen als nur eine Spur des göttlichen Wesens; denn erwähnt unsere Führerin nicht „die Einfachheit der Einheit Gottes” (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 342)?
Die Einfachheit war es, was unsere Führerin in unserem „täglichen Gebet” (Artikel VIII, Abschn. 4) im Handbuch bewahren wollte, als sie es persönlich und individuell machte. Es enthält wenig und einfache Worte, aber erhabene Gedanken, und seine Früchte sind unermeßlich. Seine Kürze bewahrheitet den alten Spruch: „Das kurze Gebet geht selten irre”. Dieses uns von unserer Führerin zum täglichen Gebrauch gegebene Gebet ist stark in seiner Einfachheit und einfach in seiner Stärke.
Eine einfache Wahrheitserklärung haftet noch im Gedächtnis, wenn verwickelte Erklärungen längst vergessen sind, gerade wie die ägyptischen Pyramiden in ihrer Einfachheit noch erhaben dastehen werden, wenn die hochgewölbten und kunstvollen Domkirchen verfallen sein werden. Einfache Wahrheiten sind nicht nur von Dauer, sondern auch leicht anwendbar. Sie verschönern ebenso die kleinsten wie die größten Angelegenheiten der Menschen. Gelehrte und Ungelehrte können die einfachen Wahrheitserklärungen gleicherweise verstehen, so tief auch die Gedanken dahinter sein mögen. Unsere Führerin schreibt mit Bezug auf Jesu Lehren: „Das Verfahren seiner Religion war nicht zu einfach, um erhaben zu sein” (Retrospection and Introspection, S. 92).
Jesus war der größte Lehrer, aber der einfachste Mensch. Er war die Einfachheit selber. Er liebte die Menschen; er verkehrte gern mit ihnen, teilte Freud’ und Leid mit ihnen, besuchte sie, war bei ihren Festlichkeiten ihr Gast und ging mit ihnen auf Wanderungen. Er war auf dem Lande zu Hause, und er liebte die Stadt. Er war freundlich und rücksichtsvoll; aber er konnte unnachgiebig und streng sein, wenn es die Gelegenheit erforderte. Zu seinen Jüngern, die verhindern wollten, daß Kinder zu ihm gebracht wurden, sagte er liebevoll: „Lasset die Kindlein zu mir kommen”, während er mit den Wechslern und Taubenkrämern im Tempel hart und streng verfuhr, als er ihr Geld verschüttete, ihre Tische umstieß und sie unnachsichtlich und buchstäblich hinaustrieb.
Jesus tat seine Arbeit unpersönlich, d.h. er trennte das Böse von dem Werkzeug, durch das es sich bekundete. Er verkehrte ohne Bedenken mit Pharisäern, aß sogar bei ihnen; trat aber einer für den Irrtum ein, so wies er ihn scharf zurecht. Er nahm sich der Armen, der Gefallenen, der Ausgestoßenen an, und fand er einen Funken Gutes in ihnen, so fachte er ihn zu einem Feuer an, das die Menschheit für alle Zeit erleuchtet. Denken wir an Fälle wie den Übeltäter am Kreuz, Maria Magdalena oder das im Ehebruch ergriffene Weib.
Eine unmittelbare Wahrheitserklärung muß einfach sein wie eine gerade Linie, die weder von ihrer Richtung abweicht noch sie ändert. Einfache Wahrheiten widersprechen einander nie, gerade wie gleichlaufende Linien, so lang sie auch sein mögen, nie zusammentreffen oder sich schneiden. Wenn Kürze auch oft mit Einfachheit verknüpft ist, so dürfen sie doch nicht miteinander verwechselt werden. Eine verwickelte und verwirrte Erklärung kann nur eine oder zwei Zeilen lang sein, während für eine einfache, um vollständig zu sein, ein ganzer Abschnitt nötig sein kann. Unser Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy ist z.B. reich an Erklärungen der Wahrheit, die so umfassend sind, daß sie nicht in einige Zeilen zusammengedrängt werden können; es enthält aber auch andere, die in prachtvoll einleuchtender Kürze glänzen. Kürze ist eine Hilfe, aber kein unerläßlicher Bestandteil der Einfachheit; man sollte jedoch nicht vergessen, daß es gewöhnlich leichter ist, sich ausführlich als kurz zu fassen. Ein vielbeschäftigter Verfasser entschuldigte sich einmal wegen der Länge seines Briefes, indem er erklärte, daß er keine Zeit gehabt habe, sich kürzer zu fassen.
Die Glieder Einfachheit, Lieblichkeit und Stärke in der Charakterkette bilden, zusammengeschweißt und unzertrennlich ineinandergefügt, eine ebenso anziehende wie unwiderstehliche Gedankenverbindung. Von jeher haben die Menschen stillschweigend geglaubt, daß die Kindheit am meisten Einfachheit, die Jugend am meisten Lieblichkeit und das gereifte Alter am meisten Stärke vertrete,—eine Erklärung des sterblichen Gemüts, die nichts Göttliches in sich hat. Dieser irrtümlichen Vorstellung gemäß streifen die Sterblichen bewußt oder unbewußt das Liebliche ab, wenn sie an Stärke zunehmen, während sie es tatsächlich dann am nötigsten brauchen.
Lieblichkeit und Stärke kommen nicht einfach für das Benehmen, das Vorgehen oder die Stimmung in Betracht. Es sind Charakterzüge, die sich durch fortgesetzte Anwendung und gegenseitige Verknüpfung erweitern und ausdehnen. Getrennt entarten beide; denn Lieblichkeit ohne Stärke artet in Verweichlichung und Schwäche aus, während Stärke ohne Lieblichkeit verwundet, wo sie heilen könnte, und hindert, wo sie helfen sollte. Ist man nicht wachsam bemüht, diese Zustände zu vernichten, so verschärfen sie sich im Lauf der Jahre; daher kommt es, daß ältere Leute so oft in dieser oder jener Richtung zu weit gehen. Die Gesinnung solcher Leute ist entweder von einer schwächlichen Lieblichkeit oder einer groben Stärke; ihre Lieblichkeit hat sich in Schwäche und ihre Stärke in Härte verwandelt.
In der Wissenschaft können Lieblichkeit und Stärke mehr als bloß Schutz bieten. Wir können uns diese Eigenschaften einprägen, heranbilden, und Jahr für Jahr fruchtbarer gestalten, wenn wir nur arbeiten wollen, um sie zu beschützen, wenn wir auf Gelegenheiten achten wollen, um sie zu üben, und wenn wir um mehr Hingabe beten wollen, um sie zu läutern. Denn sie sind Bestandteile, und zwar wichtige Bestandteile der Hingebung.
Der Schüler der Christlichen Wissenschaft sollte bei seinen täglichen Behandlungen mehr um jene Liebe beten, die sich in Lieblichkeit bekundet, damit in seinem Denken Selbstlosigkeit, Güte und Frohsinn herrschen, und um Stärke, damit er in der Stunde der Versuchung feststehe. Er braucht sich keine Sorgen zu machen, daß diese Eigenschaften nicht zum Ausdruck kommen könnten; denn sie können, wenn man sie einmal besitzt, so wenig unterdrückt werden, wie das Frühlingsgrün der Erde nach dem Sonnenschein und Regen des willkommenen Frühlings zurückgehalten werden kann.
Man braucht nicht weit zu gehen, um Beispiele zu finden, wo sich Lieblichkeit in Herbheit verwandelt hat und Stärke in Eigensinn ausgeartet ist. Wenn wir solchen Fällen begegnen, fragen wir uns wohl: Wie konnten sie nur so werden, wo sie doch einst so ganz anders waren? Ein verdrießliches Alter ist oft nur das in schärferen Linien und lebhafteren Farben gezeichnete Bild von in der Jugend unentwickelt schlummernden und oft verheimlichten persönlichen Überspanntheiten und Sonderlichkeiten. In der mürrischen und griesgrämigen Großmutter kommt oft ein herangereiftes eigensinniges Mädchen zum Ausdruck.
Oder wir sehen in unserer Umgebung ausgesprochene Fälle, wo sich in den Zügen, der Gestalt und dem Betragen Ungeduld, Aufgeregtheit, Selbstbedauern, Launenhaftigkeit, Grämlichkeit, Widerspenstigkeit und dergleichen ausprägen, und wir wundern uns wieder. Wäre es möglich, das Rad der Zeit weit genug zurückzudrehen, so würden wir wohl finden, daß diese unliebsamen Züge früher nicht an ihnen in Erscheinung traten; und erst, als sie weniger wachsam, weniger ernst, weniger andachtsvoll wurden, begann ihre Lieblichkeit zu gerinnen und ihre Stärke zu erstarren.
Wollen wir also naturgetreu dargestellt sehen, was der tierische Magnetismus, wenn wir es zuließen, an jedem von uns ausprägen würde, so brauchen wir nur um uns her zu sehen und uns dann vorzunehmen, daß wir nie dahin kommen und uns nie dazu verleiten lassen wollen, daß wir vergessen oder vernachlässigen, unsern durch unser Verständnis der Wahrheiten des Seins in unsere Reichweite gestellten Anteil an Einfachheit, Lieblichkeit und Stärke zu bewahren. Laßt uns also auf der Hut sein wie nie zuvor, und, so lang es noch Zeit ist, jede Neigung zu Ungeduld, zu Nörgelei, zu mentaler Beherrschung, unfreundlichem Tadeln unserer Mitarbeiter und anderen allgemeinen Trugschlüssen und Unwahrheiten, wozu das menschliche sogenannte Gemüt neigt, im Zaum halten!
Magensäure ist eine Störung, die schon viele unglückliche Stunden verursacht hat; aber ein saures Gemüt ist noch verderblicher und häufiger anzutreffen. Es ist auch heimtückischer und beharrlicher; denn während jedermann weiß, daß Magensäure behandelt werden muß, ist man gegen Bitterkeit des Gemüts nachsichtig und entschuldigt sie in der Tat oft durch listig vorgebrachte Selbstrechtfertigung. Ein Christlicher Wissenschafter, der an Magensäure leidet, behandelt sie mental und wird davon frei; treibt er aber saure Gedanken nicht aus seinem Bewußtsein aus, so braucht er sich nicht zu wundern, wenn andere Dinge fehlschlagen. Er sollte nie übersehen, daß jeder seiner sauren Gedanken über Personen und Dinge, wenn nicht in Zaum gehalten und durch ein bißchen Lieblichkeit verdrängt, seinen Anteil an der Milch menschlicher Freundlichkeit gerinnen läßt, seinen mentalen Zügen eine weitere Runzel hinzufügt und seine mentalen Schultern noch mehr niederdrückt.
Anerkennen wir nur die Herrschaft des unsterblichen Gemüts, so können wir in unserem Leben die Einfachheit der Kindheit, die Lieblichkeit der Jugend und die Stärke gereiften Alters unbeeinträchtigt vorweisen. Unsere Führerin schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 246): „Der Mensch, der vom unsterblichen Gemüt regiert wird, ist immer schön und groß. Jedes kommende Jahr bringt Weisheit, Schönheit und Heiligkeit zur Entfaltung”.
Die Behauptungen, daß „zwei und zwei vier ist”, und daß „die reines Herzens sind, Gott schauen werden”, nehmen wir nicht unter denselben Bedingungen an. Die eine kann uns mit vier Weizenkörnern bewiesen werden. Die andere können wir erst glauben, wenn unser ganzes Wesen von tiefster Überzeugung davon durchdrungen ist.
