Christus Jesus erklärte, das Gesetz und die Propheten seien in dem göttlichen Gebot enthalten: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch”. Die Juden seiner Zeit forderten unbedingten Gehorsam gegen den Buchstaben des Gesetzes, strenges Beachten kirchlicher Bräuche und Handlungen, die zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken waren und nur eine äußerliche Anpassung forderten. Christus Jesus verwarf Glaubensbekenntnisse und Glaubenssätze und enthüllte die geistige Bedeutung des Gesetzes. Er lehrte und bewies, daß wahrer Gehorsam in Liebe zu Gott und dem Menschen zum Ausdruck kommt, und er bewies, daß eine solche Liebe eine göttliche, Heilung bewirkende Kraft ist. Er forderte Tatbeweise des Gehorsams. Er sagte zu seinen Nachfolgern: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel”.
In „Miscellaneous Writings” (S. 250) schreibt Mrs. Eddy über Zuneigung: „Kein Wort wird so falsch ausgelegt, kein Gefühl weniger verstanden”; und im nächsten Abschnitt erklärt sie weiter: „Ich stelle hohe Forderungen an die Liebe, verlange tatkräftige Zeugen als Beweis und edle Opfer und erhabene Leistungen als Ergebnis”. Wir werden zuweilen durch etwas irregeführt, was sich Liebe nennt, was aber auf die Probe gestellt die Forderungen der Liebe nicht erfüllt. Das unaufgeklärte Denken verwechselt leicht die Schlacken der Empfindsamkeit mit dem reinen Golde tätiger Liebe und setzt gern den Buchstaben der Liebe an Stelle ihres Geistes.
In der Familie bieten sich viele Gelegenheiten, Kinder die wahre Bedeutung der Forderungen der Liebe zu lehren. Zuweilen mag in einer Familie, wo selbstlose Eltern oder Vormünder sind, dieser Seite der geistigen Erziehung nicht genug Beachtung geschenkt werden. Eine falsche menschliche Auffassung von Liebe kann einem Kinde zuviel geben und nicht genug dafür von ihm erwarten. Zuviel Nachsicht kann zu Selbstsucht und Undankbarkeit führen. Zuweilen kann uns eine falsche Auffassung von Liebe gegen die wirklichen Bedürfnisse des Kindes anscheinend blind machen und uns zu dem Glauben verleiten, es sei leichter, Kindern ihren Willen zu lassen, als sie den Segen der Überwindung des Eigenwillens und der Selbstsucht zu lehren.
In Weymouths Übersetzung des 13. Kapitels des 1. Briefs an die Korinther lesen wir: „Die Liebe ist nicht voreilig und rechthaberisch, noch ruhmredig und eingebildet. Sie benimmt sich nicht unschicklich, noch sucht sie sich zu überheben; sie läßt sich nicht zu leidenschaftlichem Zorn hinreißen, noch trägt sie Beleidigungen nach. Sie hat keinen Gefallen an anderen zugefügtem Unrecht, sondern hält sich freudig an die Wahrheit”. Indem man durch beharrliche geistige Arbeit und aufrichtiges Gebet die Forderungen der Liebe völliger verstehen lernt, sucht man ihre geistige Kraft mit erneuter Anstrengung zu beweisen.
Einige der „tatkräftigen Zeugen”, die die Liebe in unserer Beziehung zu unserem Nächsten fordert, sind Duldsamkeit, Verzeihlichkeit, Mitgefühl, Taktgefühl, das Aufgeben des Eigenwillens. Es ist beachtenswert, daß „Takt” von einem lateinischen Wort stammt, das „Berührung” bedeutet. Geistiger Takt kann von dem, was man unter Weltklugheit versteht, sehr verschieden sein; denn er entspringt nicht der Weltlichkeit oder dem Verlangen nach Beliebtheit, sondern erblüht aus Liebe. Takt geht aus jenem wahren Feingefühl hervor, das niemand absichtlich kränken oder erzürnen will. Ein solcher Takt erkennt des andern Bedürfnis. Durch sein Feingefühl für das menschliche Bedürfnis seiner Umgebung konnte Christus Jesus fühlen, wie das Weib im Gedränge sein Kleid anrührte, und ihrem Verlangen entsprechen. Seine christusähnliche geistige Berührung heilte den Sünder und machte den Aussätzigen rein, und heute müssen alle, die seinem liebevollen Beispiel folgen wollen, das die göttliche Liebe veranschaulichende zärtliche, heilende Mitgefühl verstehen und widerspiegeln lernen, wie er es tat und alle tun hieß.
In dem Maße, wie wir die Forderungen der göttlichen Liebe erfüllen lernen, lernen wir die Bedeutung der Liebe immer mehr verstehen; denn der Lohn des Gehorsams ist völligeres Verständnis. Ein Beweis echter Nächstenliebe zeigt sich darin, daß wir bereitwillig unsere persönlichen Wünsche dem Allgemeinwohl opfern. Eine andere Probe besteht darin, daß wir falsche Beurteilung ohne das geringste Gefühl von Märtyrertum oder Verurteilung bereitwillig ertragen, daß wir bereit sind, in Stürmen des Neides, der Eifersucht und des Hasses festzustehen und mit klarem Blick die Allheit des Guten und die Nichtsheit des Bösen zu sehen. Die göttliche Liebe fordert, daß wir das Gemüt Christi anziehen und alle lieblosen Regungen des sogenannten menschlichen Gemüts überwinden. In dem Verhältnis, wie dies geschieht, können wir die Täuschungen aufdecken, die die wahre Liebe nachzuahmen suchen.
Ein weiterer tatkräftiger Zeuge der Liebe ist das Vergeben von Kränkungen. Zuweilen mag man denken, man habe ein Unrecht ganz und gar vergeben, und dennoch glauben, man leide infolge des Unrechttuns eines andern. Oder man legt sein Leiden vielleicht nicht mehr andern zur Last, schiebt aber die Schuld den Zuständen zu, die die Folge des Unrechttuns eines andern zu sein scheinen. Ein tieferes Verständnis der Bedeutung des Vergebens in der durch die Christliche Wissenschaft geoffenbarten Erkenntnis, daß Gott die Liebe ist, befreit den Leidenden oft von diesen unharmonischen Zuständen.
In dem Kapitel „Betätigung der Christlichen Wissenschaft” in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” lehrt Mrs. Eddy, wie die Kranken geheilt werden, und sie legt auch die für einen christlich-wissenschaftlichen Ausüber nötigen Eigenschaften dar. Sorgfältiges Eindringen in dieses Kapitel enthüllt, daß Mitgefühl eine hervorragende Eigenschaft bei der Heiltätigkeit ist. Wir lesen dort (S. 366, 367): „Wenn wir durch den Geist heilen wollen, müssen wir das Pfund des geistigen Heilens nicht unter dem Schweißtuch seiner Form verbergen, noch die Moral der Christlichen Wissenschaft in den Grabtüchern ihres Buchstabens begraben”. Und sie fährt fort: „Ein Christlicher Wissenschafter nimmt in der heutigen Zeit die Stelle ein, über die Jesus mit folgenden Worten zu seinen Jüngern sprach: ‚Ihr seid das Salz der Erde‘”. So fordert unsere geliebte Führerin die Christlichen Wissenschafter in ihren Schriften auf, den praktischen Beweis der Forderungen der Liebe als überzeugendstes Zeichen ihres Gehorsams zu erbringen.
