Zwischen Gerichtsverhandlungen und richtigem Folgern in der Christlichen Wissenschaft besteht eine gewisse Ähnlichkeit; denn beiden liegen die allgemeinen Regeln der Folgerichtigkeit zu Grunde. Mrs. Eddy deutet dies an, wenn sie im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 430–442) zur Veranschaulichung der christlich-wissenschaftlichen Krankenheilung die Allegorie eines Gerichtsverfahrens gebraucht, in die man sich mit Nutzen vertiefen kann. Wie Jesus zur Darstellung einfacher, aber tiefer Wahrheiten Gleichnisse gebrauchte, so gebrauchte Mrs. Eddy gelegentlich die Allegorie, um auf etwas Wichtiges Nachdruck zu legen. Sie schrieb die Geschichte eines mentalen Falles vor Gericht, wie sie ihr durch Offenbarung zuteil wurde: die Schilderung des Verhörs des sterblichen Menschen vor dem Richter Medizin wegen Übertretung gewisser Gesundheitsgesetze. Nach Vernehmung verschiedener Zeugen, nämlich des Vertreters der Gesundheitsgesetze, der belegten Zunge, der blassen Haut, des Nervs, der Sterblichkeit und des Todes, wird der sterbliche Mensch zum Tode verurteilt. Dann übernimmt der Anwalt Christliche Wissenschaft den Fall und bringt ihn vor das höchste Gericht des Geistes, wo das Urteil aufgehoben und der Angeklagte freigesprochen wird.
Was können wir hieraus lernen? Beim Verhör vor dem niederen Gericht verteidigte niemand den armen sterblichen Menschen. Die Geschworenen, bestehend aus der Physiologie, dem Hypnotismus, dem Neid u. a., hörten die gegen den Angeklagten vorgebrachten Zeugenaussagen. Der Richter Medizin waltete seines Amtes und verurteilte den Angeklagten zum Tode, ohne daß sich eine Stimme zu dessen Gunsten erhoben hätte. Aus Furcht hatte der Angeklagte offenbar alles gegen ihn Vorgebrachte zugegeben, ohne daß er auch nur die geringste Anstrengung gemacht hätte, die Zeugenaussagen zu widerlegen oder sich zu verteidigen. Er war tatsächlich mit dem Irrtum einverstanden, und die Folgen schienen beängstigend.
Ein solches Urteil ist aber nicht endgültig; denn in dieser Allegorie tritt die Christliche Wissenschaft als würdige Ratgeberin auf, und sie erweist sich auch als solche. Es wird rechtmäßige Berufung beim höheren Gericht eingelegt. Dem niederen Gericht unter dem Vorsitz des Richters Medizin wird die Rechtsgewalt über den Menschen abgesprochen. Es wird geltend gemacht, daß der Geist das Recht habe, gegen die Ansprüche des Irrtums Stellung zu nehmen, und der Irrtum wird zurechtgewiesen. Es wird vorgebracht, daß es ungesetzlich sei, jemand, der unschuldig gehandelt hat, mit dem Tode zu bestrafen, und daß die Zeugenaussagen gegen den Angeklagten unwahr seien, es liege ferner kein Vergehen vor, es gebe keine Krankheit, weil sie ungesetzlich sei, und schließlich sei der Angeklagte nur dem Gesetz Gottes untertan. Der Vorsitzer des Obergerichts des Geistes erklärt am Schlusse seiner Ausführungen (S. 442): „Der Mensch wird der Übertretung physischer Gesetze unschuldig befunden, weil es keine solchen Gesetze gibt”, worauf der Angeklagte freigesprochen wird.
Mrs. Eddy hat geschrieben (in dems. Buche, S. 394, 395): „Die Kranken argumentieren unbewußt für das Leiden, anstatt gegen dasselbe. Sie geben dessen Wirklichkeit zu, während sie sie leugnen sollten. Sie sollten gegen das Zeugnis der trügerischen Sinne auftreten und des Menschen Unsterblichkeit und ewige Gleichheit mit Gott behaupten”. Macht sich Krankheit, Armut oder Furcht geltend, so sollte man wissen, daß es keine Tatsachen sind, sondern nur die Stimme der trügerischen Sinne, die ein falsches Gesetz, Krankheit, Sünde und die daraus folgenden Strafen verkündigen. Dies sollte einen nicht erschrecken. Aber angenommen, statt des Leugnens verteidige man sich in hinhaltender Weise, um die schlimme Folge ohne Hilfe metaphysischer Arbeit aufzuschieben. Ja, man macht vielleicht geltend, daß ein harmloses Mittel oder Verfahren den Zustand lindern, eine körperliche Behandlung die Heilung beschleunigen, eine besondere Leibesübung oder Ernährungsweise das Wohlbefinden fördern könne, und man macht vielleicht auch die Erfahrung, daß Freunde einem zu solchem Vorgehen bereitwillig raten. Solche Ausflüchte schwächen nur die Lage vor dem Gericht des Geistes; sie heilen den Fall nicht. Jeden Rat, solche Verfahren zu wählen, sollte man als den Geist des Antichristen, des Bösen unter der Maske des Guten, ablehnen. Ein anderer hinhaltender Einwand verleitet einen, die geistige Arbeit auf eine gelegenere Zeit zu verschieben. Während dies aber den Anschein erweckt, unschuldig zu sein, ist es in seinen Folgen zuweilen verhängnisvoll. Man sollte keine Zeit mit einer solchen Einflüsterung vergeuden; denn durch Nachsicht wird sie nur gestärkt.
Aber der Irrtum drängt einen vielleicht zu bitten, daß der Anspruch gemildert werde, weil er einem überhaupt nicht hätte widerfahren sollen,—da man ein gutes Leben geführt, seinen Nächsten geliebt, sich regelmäßig in die Lektionspredigten im christlich-wissenschaftlichen Vierteljahrsheft vertieft und regelmäßig die Gottesdienste besucht, also einen solchen Lohn nicht verdient habe. Treten solche Einflüsterungen an einen heran, so sollte man den Annahmen Selbstbedauern und Groll entgegentreten. Man sollte wissen, daß dem Kinde Gottes kein wirkliches Hindernis begegnen kann, und daß jeder besiegte Irrtum zum Segen wird. Zuweilen mögen wir uns gezwungen fühlen, einem Irrtum zu willfahren, indem wir zugeben, daß er Wirklichkeit und Macht habe. Dies ist gefährlich. Alles, was wir zugeben, richtet sich bei unserer geistigen Arbeit wie im bürgerlichen Gesetz gegen uns. Keine einzige Behauptung des Irrtums sollte zugegeben, kein einziges Anzeichen, keine einzige Folge als wahr anerkannt werden. Wir sollten dem Irrtumsanspruch nicht zustimmen, noch versuchen, den Folgen dadurch zu entgehen, daß wir sagen, unser Wissen reiche nicht aus, ihm entgegenzutreten, oder daß wir die Behandlung nicht erteilen können, oder daß wir zu beschäftigt, zu furchtsam oder zu müde seien, uns mit der Schwierigkeit zu befassen. Keine dieser Ausreden wird uns über den Irrtum erheben, noch uns der Notwendigkeit entheben, ihn einmal zu überwinden.
Dagegen bringt der von Weisheit und Erfahrung geleitete Schüler seine Verteidigung, unbedingtes Verneinen des Anspruchs, vor. Er besteht auf seiner Gottessohnschaft, erklärt, daß Gott allmächtig und allgegenwärtig ist, und daß das Böse daher weder Raum noch Macht hat. Er ist darauf bedacht, jedes sich bemerkbar machende Anzeichen besonders zu verneinen. Er behauptet die Nichtsheit des Mesmerismus, so oft er ihn zu bestimmen sucht, den Vorwand des sterblichen Gemüts als wirklich anzunehmen. Er leugnet die Materie und ihren Anspruch auf Intelligenz und Macht, er leugnet, daß das Böse durch irgend ein Mittel wirken oder Schmerz fühlbar machen könne. Er leugnet, daß der angreifende Irrtum Haß sich in seinem oder eines andern Denken ausdrücken und dadurch den Blick trüben könne. Er widerlegt den Glauben an Übertretung eines materiellen Gesetzes, da es kein solches Gesetz gibt. Trotz gegenteiligem Anschein beweist er, daß die Materie sich nicht entzünden oder schmerzen kann, weil im Reiche des Wirklichen das Gemüt alles und die Materie nichts ist. Und so tritt er der Furcht, dem Bösen, dem Haß—allem Irrtum—so lang entgegen, bis er die feierliche Stimme der Wahrheit hört, die dem geängstigten Herzen Frieden verkündigt. Dann weiß er, daß die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfällt: die Liebe hat über die trügerischen Sinne gesiegt, Gott ist verherrlicht, und der vollkommene Mensch ist geoffenbart.
Mit welch erstaunlicher Erkenntnis bietet unsere Führerin in der erwähnten Allegorie wichtige Punkte für das Behandeln! Im Bösen ist keine Kraft, um dem Menschen Leiden zu verursachen. Niemand kann durch Widerstand, bösartige Einflüsterungen oder Furcht der Wohltaten der Christlichen Wissenschaft oder der Fähigkeit, sie anzuwenden, beraubt werden. Im Augenschein der Sinne ist keine Wahrheit. Der geistige, wirkliche Mensch ist nicht der Verdammung preisgegeben. Es gibt keine Krankheit und keine Person, durch die Krankheit wirken kann. Es gibt kein Gesetz, wodurch Haß, Bosheit und Furcht durch den Körper wirken und uns das Leben, die Gesundheit und die Unsterblichkeit jetzt und immerdar rauben können: Gottes Gesetz herrscht allerhaben.
