Zuweilen scheint der Vorwurf der Engherzigkeit Männer und Frauen zu veranlassen, Maßstäbe, die sie für recht erkannt haben, herabzusetzen, obwohl der größte Lehrer, den die Welt je kannte, sagte: „Die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet”. Dieser Weg wahren Denkens und erfolgreichen Lebens ist breit genug, die Unendlichkeit des Guten zuzulassen, und schmal genug, alles Böse auszuschließen.
Fraglos erscheint der Weg der Geradheit und Redlichkeit, der Sittlichkeit und Reinheit den Weltlichen, den Nachlässigen und den Materiellgesinnten eng. Aber der Christliche Wissenschafter, der gelobt hat, rein, gerecht und barmherzig zu sein, hat einen ganz andern Maßstab.
Wir heißen den Ingenieur nicht engherzig, weil er die Regeln des Ingenieurwesens ohne Abweichung genau befolgt. Wir würden einen Apotheker, der, um großzügig zu sein, einem ihn beratenden unwissenden Freunde zuliebe von seinem Rezept abweichen würde, nicht für großzügig sondern für töricht, vielleicht für sträflich nachlässig — für eine Gefahr für die Menschheit — halten.
Der Christliche Wissenschafter mit seinen bestimmten Lebensregeln hat ganz gewiß eine wichtigere Aufgabe als der Ingenieur oder der Apotheker, der Astronom oder der Naturforscher, und er sollte erwarten, und es sollte von ihm erwartet werden, daß er die höhere Regel sogar noch genauer befolgt, als sie die Regeln, die sie anerkennen, befolgen. Ein schönes Leben aufbauen, ist ein größeres Unternehmen als eine schöne Brücke bauen und hat weitreichendere Folgen. Es erfordert hingebungsvollere Pflichterfüllung und genaueren mentalen Gehorsam gegen die Regeln als der Brückenbauer je wußte.
Beim Vernachlässigen der Sittenmaßstäbe wird oft der Glaube geäußert, daß eine gewisse geringfügige Nachsicht, ein gewisses Sichanpassen an die gesellschaftlichen Maßstäbe unserer Mitmenschen anstatt auf genauer Befolgung der rein wissenschaftlichen Regeln in unserem Lehrbuch zu bestehen, nichts schade und niemand verletze. Solchem Folgern liegt immer Unwissenheit, Feigheit, Unehrlichkeit, Selbstsucht und Denkträgheit zugrunde. Kann etwas, was in größerem Maße schädlich ist, in kleinem Maße vollständig hamlos sein? Nein, und wir wollen auch nicht, daß unser Leben nur harmlos sei! Wir wollen, daß jeder Gedanke und jede Handlung ein bestimmter, aufbauender Segen sei.
Man weiß nur zu gut, daß es selten bei einem Zugeständnis an lockere Maßstäbe, bei einer kleinen Abweichung von strengster Sittlichkeit bleibt. Jede Abweichung von der denkbar besten Befolgung unseres Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy muß unfehlbar entsittlichend auf den Christlichen Wissenschafter wirken. Jede solche Abweichung hat verminderten Widerstand gegen das Böse und Verlust an geistiger Kraft zur Folge. Wir müssen das rechtschaffene Leben eines erfolgreichen, gesunden, selbstlosen, liebevollen, intelligenten und redlichen Christlichen Wissenschafters so anziehend machen, daß jedermann seine Schönheit sieht und ihm nachzueifern wünscht. Die Herrschaft und das Ebenmaß eines solchen Lebens kann zahllose andere stärken und ermutigen.
Was die Kraft zu widerstehen, zu siegen und zu vollbringen, die geistige Fähigkeit wahrzunehmen und zu entscheiden, Befriedigung und Frieden zu erlangen, heranbildet, wird nicht durch Befriedigung der Sinne oder Mangel an Selbstbeherrschung sondern durch Ausübung der gottverliehenen Herrschaft gewonnen. Fortschritt der Vollkommenheit entgegen wird nicht durch die unmaßgebliche Billigung des sterblichen Gemüts gemacht, sondern durch Beachtung der unveränderlichen Billigung des göttlichen Gemüts. Die grundlosen, hinfälligen und wertlosen Maßstäbe alles dessen, was nicht vollkommen moralisch, ethisch und geistig ist, kommen für den Christlichen Wissenschafter nicht in Betracht.
Erkennen wir die gewaltige Verantwortung, die auf uns Christlichen Wissenschaftern ruht: für die Welt einen höheren Sittenmaßstab, als sie je kannte, aufzustellen und zwar auf die einzig mögliche wirksame Art, daß wir selber so leben? Strengste Ehrlichkeit, Weisheit, Keuschheit, reine Zuneigung, Befolgung des Gesetzes und der Goldenen Regel muß jeder wahre Christliche Wissenschafter täglich in seinem Leben beweisen.
Laßt uns für uns und andere wissen, daß „kein Kriegsmann flicht sich in Händel der Nahrung, auf daß er gefalle dem, der ihn angenommen hat”, wie Paulus sagt. Gewisse Personen lieben und maßlos verehren, führt zu Irrtum, weil die endliche Persönlichkeit selber der Ausdruck eines irrigen Begriffs vom Menschen ist, während wahre geistige Eigenart lieben und verehren stets zu Gott führt, in dem alle wirkliche Eigenart ruht.
Wenn der Schüler im geschäftlichen oder sonstigen Verkehr auf den Vorwand des Irrtums hört, daß „wir noch menschlich seien und daß nicht erwartet werden könne, daß wir einem so hohem Maßstab gerecht werden”, kann er finden, wenn er bei der Christlichen Wissenschaft Heilung sucht, daß das Festhalten an einem Selbst, das für strikte Rechtschaffenheit und Reinheit zu menschlich ist, den Glauben erwecken kann, daß dieses Selbst für vollkommene Gesundheit, vollkommene Freiheit, vollkommenen Frieden und Wohlstand zu menschlich sei. Jesus stellte den Maßstab für jeden Christen auf, als er sagte: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist”. Er meinte damit nicht, daß das Vollbringen durch Anhören des Gebots gelinge; auch gab er nicht zu verstehen, daß etwas Geringeres als die denkbar beste Annäherung an diesen Maßstab rechtmäßig sei.
Das Christentum gründet sich auf die Zehn Gebote und auf Christi Jesu Lehre und Beispiel, und die Christliche Wissenschaft ist das wahre Christentum. Wenn wir also die Gebote nicht in ihrer ungeschminkten Einfachheit, gerade wie das 2. Buch Mose sie gibt, befolgen, sind wir keine Christlichen Wissenschafter. Sie sind für christliches Leben grundlegend und unerläßlich. Auf ihrer gesunden Grundlage entstehen der lieblichere Bau der Seligpreisungen und die reine wissenschaftliche Herrschaft, auf die auf Seite 518 im Lehrbuch Bezug genommen ist. wo unsere Führerin vom Menschen sagt: „Herrschaft ist sein Geburtsrecht, nicht Unterwerfung. Er ist Herr über die Annahme von Erde und Himmel — allein seinem Schöpfer untertan”.
Wer die Gebote nicht unbedingt befolgt, beweist nicht, daß er Herr über die irdischen Annahmen ist. Einer, den die Versuchungen der Sinne unheilvoll beeinflussen können, beweist nicht, daß er „allein seinem Schöpfer” untertan ist. Unsere Führerin sagt (Pulpit and Preß, S. 21): „Beliebtheit, Selbstverherrlichung, alles, was unsere Geistigkeit im geringsten trüben kann, muß beseitigt werden. Nur was das Empfinden mit Unweltlichkeit speist und erfüllt, kann Frieden und Wohlwollen gegen die Menschen geben”.
Der wahre Christliche Wissenschafter stellt das Widerspiegeln Gottes, Liebe zu seiner Kirche, Gehorsam gegen das Lehrbuch und das Bestreben, der Christlichen Wissenschaft Ehre zu machen, über alles, was der persönliche Sinn ihm bieten kann. Selbst wenn er ihm die Reiche der Welt anbieten könnte, würde er wissen, daß es keine Befriedigung gewähren würde, sie gegen Geistigkeit einzutauschen. Und der Schüler, der die Christliche Wissenschaft liebt, vermeidet nicht nur alles Böse, sondern er meidet auch weise allen bösen Schein, „daß unser Amt nicht verlästert werde”, und daß kein Neuling, der sein Leben beobachtet, etwa irre wird oder sich abwendet.
Der weise Schüler ist bestrebt, demütig, ausdauernd und aufrichtig zu sein; und das Leben des echten Christlichen Wissenschafters steht seinem Maßstab und seinen Worten an Schönheit nicht nach. Wir lesen in unserem Lehrbuch (S. 167) „Gute Worte an Stelle von einem guten Leben, guten Schein an Stelle von geradem Charakter zu setzen, das sind armselige Ausflüchte für die Schwachen und Weltlichen, die da meinen, die Norm der Christlichen Wissenschaft sei zu hoch für sie”.
In den Sprüchen Salomos (K. 13, 17) lesen wir: „Ein gottloser Bote bringt Unglück; aber ein treuer Bote ist heilsam”. Den „gottlosen Boten”, den irrigen Sendboten des tierischen Magnetismus, in das Denken einlassen, bedeutet immer Unheil während das Zulassen der Boten der Wahrheit seelische und leibliche Gesundheit und den Ausschluß des Bösen bedeutet.
Wenn der Christliche Wissenschafter nicht wachsam genug ist, den Irrtum zurückzuweisen, ehe er sich in sein Denken eindrängt, muß er ihn austreiben, nachdem er Einlaß gefunden hat. Hat es den Anschein, daß er von dem „gottlosen Boten” mesmerisiert ist, so müssen ihn die Boten der Wahrheit von dem Mesmerismus befreien. Zuerst muß er das Verlangen haben, frei zu sein. Dann kann er wissen und beweisen, daß das einzige Bewußtsein jenes sündlose Bewußtsein ist, das die Seele widerspiegelt, und das in seiner ganzen strahlenden Kraft und Reinheit ihm als Gottes Kind gehört. Dieses Bewußtsein kann nicht mesmerisiert werden; es ist vor bösem Einfluß sicher.
Die Verlockungen des Bösen wenden sich nie an den Zeugen Gottes, noch ist Gottes Zeuge für sie empfänglich. Er ist nicht schwach, er wird nicht leicht vom Irrtum beeinflußt, und die Unwissenheit oder das falsche Urteil der Sterblichen schreckt ihn nicht und macht keinen Eindruck auf ihn. Der wirkliche Mensch ermangelt nicht der Kraft, der Geistigkeit, der Weisheit oder der Herrschaft. Auf den wirklichen Menschen üben Weltlichkeit, persönliche Bequemlichkeit oder Versuchung keine Anziehung aus, noch fürchtet er, daß sie es tun werden. Er besitzt Reinheit und weiß es; er drückt Redlichkeit aus und ist sich dessen bewußt; er ist die Widerspiegelung der Allmacht.
Die Christliche Wissenschaft enthüllt einen für den weltlichen Sinn neuen Weg. Ihre Freuden, ihre geistige Entfaltung sind von den weltlichen ganz verschieden. Wer könnte sich, wenn er einen Schimmer der durch die Christliche Wissenschaft erreichbaren furchtlosen Freiheit und intelligenten Herrschaft erhascht hat, wieder den altgewohnten Gang sinnlicher Freuden mit ihren unvermeidlichen Folgen wie Unruhe, Enttäuschung, Zwecklosigkeit, Mißerfolg, Krankheit und Verzweiflung wünschen? Was hat es zu sagen, wenn das Festhalten am Prinzip beständiges Leugnen und Aufgeben des materiellen Selbst bedeutet,— jenes unwirklichen Selbst, das nie Befriedigung oder Frieden gebracht hat und nie Harmonie bringen wird? Das Prinzip verlangt von uns nicht, daß wir etwas Gutes aufgeben; es verlangt nicht, daß wir etwas anderes opfern als Irrtümer und Befürchtungen und Mißerfolge.
Laßt uns im Denken für immer reiner werdende Geistigkeit eintreten, und laßt uns nicht von dem dankbar höchsten menschlichen Maßstab der Sittlichkeit, der Ehrlichkeit, der Selbstlosigkeit und erbarmungsvoller Rücksichtnahme auf andere abweichen noch eine Abweichung gutheißen! Laßt uns ein Beispiel der Schönheit eines Lebens geben, in das das stärkste Licht hineinleuchten kann, ohne etwas anderes als noch mehr Schönheit zu enthüllen! Laßt uns die Einfachheit und die Lieblichkeit eines Lebens klarmachen, das Gott beständig besser widerspiegelt! Dann werden wir „eine Standarte für die Völker aufstellen” helfen (engl. Bibel), wohl wissend, daß, wenn man die Standarte des Guten hochhält, Gott den Standartenträger aufrecht erhält.
