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Liebe

Aus der Mai 1937-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Zu welch erhabenen Höhen doch Christus Jesus den menschlichen Begriff Liebe emporgehoben hat! Er lebte und veranschaulichte die Liebe, die nicht eine bloße Empfindung oder Beteuerung der Frömmigkeit ist, sondern durch Dienen, Opfer, Mitgefühl und Erbarmen zum Ausdruck kommt; eine Liebe, welche Loyalität heiligt und wahre Ideale praktisch macht; eine Liebe, die die Liebe widerspiegelt und so unermeßlich weit und stark ist, daß sie die ganze Menschheit umschließt und sich über alle Schranken hinwegsetzt.

Wie damals, als der Nazarener auf der Erde wandelte, ist diese Liebe, die alles Gute und Edle hochachtet, auch heute nötig; denn es ist unmöglich, von der Liebe die herrlichen Merkmale dieser Eigenschaft, geistig verstanden, zu trennen. Wenn daher der Liebe, die wir ausdrücken, nichts Göttliches anhaftet, wenn sie nicht freigebig, selbstlos, rein und liebreich ist, dann ist sie nicht Liebe, sondern deren Nachahmung. Wenn wir aber in den Fußstapfen des Wegweisers wandeln wollen, muß unsere Liebe praktisch sein. Wir dürfen sie nicht nur im Herzen haben, sondern müssen sie leben, indem wir sie in jeder Einzelheit unserer täglichen menschlichen Erfahrung bekunden. So wird Liebe in unfehlbarer Höflichkeit, Freundlichkeit und äußerster Rücksicht auf alle Ausdruck finden. Dann wird scheinheiliges Richten eines andern aufhören; denn andere verdammen, nicht mögen, tadeln oder unduldsam gegen sie sein, heißt sicher nur sich selber elend machen und erniedrigen. Die im verstehenden Herzen widergespiegelte Liebe verneint ganz den Geist des Hasses, der Bitterkeit und des Grolls.

Welch unendliches Erbarmen doch in den Worten liegt, die der Meister an das im Ehebruch ergriffene Weib richtete: „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr”! Man kann leicht sehen, wie ganz anders die Geschichte der Magdalena ausgefallen wäre, wenn Jesus den Ausdruck ihrer Reue verschmäht hätte. Aber der Erlöser zerbrach den „zerstoßenen Rohrstab” nie. Er, der in der Höhe weilte, war immer bereit, den in die Tiefe Gesunkenen ein Freund und Helfer zu sein; den heilenden Balsam der Liebe und der Barmherzigkeit in ihre Wunden zu gießen. Wenn also er, der ohne Sünde war, nicht richtete, dürfen wir es uns dann erlauben? Was können wir je von den herzzerreißenden Kämpfen oder der bitteren Reue eines andern wissen? Soll unsere Hand einen Irrenden tiefer in die Grube stoßen, oder soll unsere Hand ihn stützen, bis er sicherer stehen kann?

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