Zu welch erhabenen Höhen doch Christus Jesus den menschlichen Begriff Liebe emporgehoben hat! Er lebte und veranschaulichte die Liebe, die nicht eine bloße Empfindung oder Beteuerung der Frömmigkeit ist, sondern durch Dienen, Opfer, Mitgefühl und Erbarmen zum Ausdruck kommt; eine Liebe, welche Loyalität heiligt und wahre Ideale praktisch macht; eine Liebe, die die Liebe widerspiegelt und so unermeßlich weit und stark ist, daß sie die ganze Menschheit umschließt und sich über alle Schranken hinwegsetzt.
Wie damals, als der Nazarener auf der Erde wandelte, ist diese Liebe, die alles Gute und Edle hochachtet, auch heute nötig; denn es ist unmöglich, von der Liebe die herrlichen Merkmale dieser Eigenschaft, geistig verstanden, zu trennen. Wenn daher der Liebe, die wir ausdrücken, nichts Göttliches anhaftet, wenn sie nicht freigebig, selbstlos, rein und liebreich ist, dann ist sie nicht Liebe, sondern deren Nachahmung. Wenn wir aber in den Fußstapfen des Wegweisers wandeln wollen, muß unsere Liebe praktisch sein. Wir dürfen sie nicht nur im Herzen haben, sondern müssen sie leben, indem wir sie in jeder Einzelheit unserer täglichen menschlichen Erfahrung bekunden. So wird Liebe in unfehlbarer Höflichkeit, Freundlichkeit und äußerster Rücksicht auf alle Ausdruck finden. Dann wird scheinheiliges Richten eines andern aufhören; denn andere verdammen, nicht mögen, tadeln oder unduldsam gegen sie sein, heißt sicher nur sich selber elend machen und erniedrigen. Die im verstehenden Herzen widergespiegelte Liebe verneint ganz den Geist des Hasses, der Bitterkeit und des Grolls.
Welch unendliches Erbarmen doch in den Worten liegt, die der Meister an das im Ehebruch ergriffene Weib richtete: „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr”! Man kann leicht sehen, wie ganz anders die Geschichte der Magdalena ausgefallen wäre, wenn Jesus den Ausdruck ihrer Reue verschmäht hätte. Aber der Erlöser zerbrach den „zerstoßenen Rohrstab” nie. Er, der in der Höhe weilte, war immer bereit, den in die Tiefe Gesunkenen ein Freund und Helfer zu sein; den heilenden Balsam der Liebe und der Barmherzigkeit in ihre Wunden zu gießen. Wenn also er, der ohne Sünde war, nicht richtete, dürfen wir es uns dann erlauben? Was können wir je von den herzzerreißenden Kämpfen oder der bitteren Reue eines andern wissen? Soll unsere Hand einen Irrenden tiefer in die Grube stoßen, oder soll unsere Hand ihn stützen, bis er sicherer stehen kann?
Gerade hier kommt uns die Christliche Wissenschaft zu Hilfe und zeigt uns, wie wir wie Jesus helfen können, indem wir zwischen dem sterblichen und dem wirklichen Menschen der Schöpfung Gottes, dem Bild und Gleichnis der Liebe, unterscheiden. Das Verständnis des Menschen als der Widerspiegelung Gottes lehrt uns alle Sünde und Unvollkommenheit von unserem Denken über den Menschen trennen. Dann heften wir den Irrtum nicht mehr der Person an, sondern sehen ihn als falsche Annahme. Um zu heilen, müssen wir also alle falschen Begriffe gegen des Menschen wahre Wesenseinheit im Gleichnis des Vaters austauschen und angesichts der unzähligen Unwahrheiten des sterblichen Daseins am geistig Wirklichen festhalten. Das geistige Verständnis befähigt uns, über den äußeren Schein hinauszublicken und die Wahrheit zu finden. Somit hat man einen sogenannten Sünder weder zu tadeln noch zu lieben, sondern sich zu vergegenwärtigen, daß es dort, wo Gott ist — und Er ist überall — weder Sünde noch Mißklang gibt. Jede scheinbare Unvollkommenheit ist eine Lüge über den Menschen; denn das einzige, was tatsächlich besteht, ist die vollkommene, geistige Idee, das Kind Gottes.
Der Apostel Johannes gibt uns zu der ganzen Lage den Schlüssel, wenn er erklärt: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder”. In unserem wirklichen Sein sind wir trotz allem gegenteiligen Sinnenzeugnis jetzt die vollkommenen Kinder des vollkommenen Vaters, und in dem Maße, wie wir in jedem des Sohnes Ähnlichkeit mit dem Vater sehen, lieben wir unsern Bruder, was zu seiner Besserung beiträgt, und so wird die heilende und erneuernde Arbeit in der Christlichen Wissenschaft getan. In ihrem erhabenen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt Mrs. Eddy (S. 476, 477): „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündeige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eigenes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken”.
Im 13. Kapitel des 1. Briefs an die Korinther macht Paulus uns klar, daß wir trotz allem, was wir haben oder tun, nur „einem tönenden Erz oder einer klingenden Schelle” gleichen, wenn wir keine Liebe haben: es gilt nichts. Und Johannes geht noch weiter, wenn er erklärt: „Gott ist Liebe”. Warum legte der Apostel solchen Nachdruck auf Liebe? War es nicht deshalb, weil er die Wahrheit erkannte, daß jemand, der wirklich liebt, unwillkürlich jede andere Bedingung erfüllt, die bei der letzten Abrechnung gilt?
Was für eine ganz andere Geschichte die Welt zu schreiben gehabt hätte, wenn Liebe anstatt Haß geherrscht hätte! Wieviel dunkle Flecke, die ihre Seiten verunzieren, nicht vorgekommen wären! Die Welt schreit heute nach Frieden; aber dauernder Friede wird erst kommen, wenn die Gegenwart und die Macht der göttlichen Liebe anerkannt werden. Wie ungeheuer wichtig es also ist, daß wir unser Herz mit Gott, der die Liebe ist, in Übereinstimmung bringen! Dann werden wir zuversichtlich hervorgehen lernen, durchdrungen von einer Liebe, die alle umschließt und alles vergibt, und von einem Glauben und einer Demut, die mit Gott wandeln.
