Eine der allgemeinsten Neigungen der Sterblichen ist, immer an eine vergangene Begebenheit in der menschlichen Erfahrung zu denken oder ein künftiges Ereignis zu erwarten, im Reiche der Zeit entweder voraus- oder zurückzublicken — zurück sowohl auf unerfreuliche als auch auf erfreuliche, sowohl auf unheilvolle als auch auf erfolgreiche Begebenheiten, sogar eine Art krankhafter Befriedigung darin zu suchen, sich Böses und Widerwärtiges in der eigenen Erfahrung vor Augen zu führen; vorwärts in Erwartung von Gutem oder Bösem, von Wonne oder Schmerz, von Freuden, die mit anderen zu teilen sind, und von Bösem, dem entgegenzutreten ist. Diese Neigung rührt daher, daß man in der Gegenwart nicht findet, was das menschliche Herz befriedigt — was den Sinn dauernder Freude bringt, jenen Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Nichts könnte die Unwirklichkeit des sogenannten sterblichen Gemüts vollständiger beweisen als seine sprichwörtliche Rastlosigkeit.
Diese mentale Haltung beruht auf gewissen Grundirrtümern, die das geistige Verständnis, das durch Ergründen der Christlichen Wissenschaft gewonnen wird, bloßstellt. Diese Irrtümer entspringen falschen Vorstellungen von Gott, von Zeit und Ewigkeit und der Persönlichmachung des Guten und des Bösen. Daß Gott der immer gegenwärtige und ewige unendliche Geist ist, steht in den Lehren der Bibel und in der Christlichen Wissenschaft unumstößlich fest. Daß die Ewigkeit ohne Anfang und Ende ist, schließt die Möglichkeit aus, daß Zeit, von den irrigen Begriffen des sterblichen Gemüts getrennt, Dasein habe. Überdies kann das Unendliche und Ewige nicht nach Zeit und Raum bemessen werden. Daher ist das immergegenwärtige, das geistige Jetzt, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, die ewige Tatsache hinsichtlich alles Daseins. Warum sollten die Sterblichen dann entweder vorwärts- oder zurückblicken, da doch diese beiden Neigungen miteinander etwas bedeuten, was außer einem falschen Sinn von Erfahrung nicht besteht? Während vergangene Ereignisse einen Platz in der menschlichen Geschichte gehabt haben mögen, bestehen sie in Wirklichkeit, d.h. für den wirklichen Menschen, überhaupt nicht. Der wirkliche Mensch, Gottes Vertreter, der mit Gott zugleich besteht und so ewig ist wie Er, hat keine Zukunft und keine Vergangenheit. Er weilt in der geistigen Gegenwart, in dem Bewußtsein des Vater-Mutter-Gottes.
Da ferner des Menschen Individualität und Bewußtsein Widerspiegelungen des Göttlichen sind, wie Mrs. Eddy uns versichert, besitzt der Mensch tatsächlich keinen von Gott, der Quelle aller Wirklichkeit, getrennten Bewußtseinszustand. Und da sich das unendliche, ewige Bewußtsein alles Bestehenden als ewig gegenwärtig bewußt ist, ist sich der Mensch, der als Widerspiegelung kein Bewußtsein hat, das Gott unähnlich ist, nur des ewigen, geistigen Jetzt bewußt. Der Prediger Salomo legte diese Gegenwart aller Wirklichkeit im ewigen Jetzt vollkommen dar. Nach der Wiedergabe eines neuzeitlichen Übersetzers lautet der folgende Vers (Pred. 3, 15): „Alles, was ist, ist schon gewesen; alles, was sein wird, ist schon; und Gott bringt immer zurück, was verschwindet”. Diese Versicherung, daß alles Gute im geistigen Jetzt besteht, sollte die Sterblichen anspornen, das göttliche Erbe zu erforschen, das der Mensch durch Widerspiegelung immer besitzt. Nur aus diese Art lernt man, wie reich man in Wirklichkeit geistig ist; was es bedeutet, ein Kind Gottes, ein Sohn Gottes und Miterbe Christi zu sein.
Was enthüllt nun solches Untersuchen? Nichts Geringeres als die Fülle des Guten, die unsere gegenwärtige Fassungskraft weit übersteigt. Des Menschen gegenwärtiger Besitz ist ein unermeßliches Erbe, unendlich in seiner Ausdehnung, ewig in seiner Güte, überall gegenwärtig in seiner Fülle, wovon das menschliche Gemüt unfähig scheint, mehr als einen unendlich kleinen Teil zu erfassen.
Denken wir z.B. einen Augenblick an den Besitz dauernder Gesundheit! Der wirkliche Mensch spiegelt ewig die Harmonie, die Gottes Weltall kennzeichnet, wider. Und in diesen mentalen Zustand kann nie eine sogenannte Krankheits- oder Sündenannahme eindringen. Daher ist Harmonie dauernd. Gesundheit ist nur der Ausdruck jener Harmonie, in der jede Idee die Tätigkeiten, wofür sie geschaffen wurde, vollkommen verrichtet. Jede geistige Idee steht auch in der rechten Beziehung zu allen anderen Ideen. Daher kann es keine Zwietracht geben. Alle Ideen bleiben unter der Herrschaft des göttlichen Gesetzes, das unveränderlich ist und immer wirkt. Gesundheit ist also der uranfängliche und dauernde Zustand des Menschen. Das Erfassen der wahren Bedeutung dieser Tatsache stellt den wahren Sinn von Gesundheit, der den Sterblichen zu fehlen scheint, wieder her und gründet ihn fest.
Ferner wird der Sinn von Mangel und Beschränkung, wovor sich die Sterblichen so oft gestellt sehen, vollständig vernichtet, wenn die Tatsachen des wahren Erbes des Menschen begriffen werden. Ist der Mensch als Gottes Idee in irgend einem Sinne begrenzt? Wird seine Kraft sich auszudrücken durch irgend eine göttliche Verordnung beschränkt oder beeinträchtigt? Der Mensch ist Gottes Offenbarwerdung, Sein Vertreter, der vollkommene Tätigkeit ausdrückt. Ist es dann nicht töricht zu glauben, daß das allmächtige, allgegenwärtige und allwissende Wesen, Gott, ein begrenztes Geschöpf geschaffen habe, das Seine Widerspiegelung, Sein Ebenbild sein soll? Unsere Führerin erklärt die Wahrheit, wenn sie auf Seite 183 in „Miscellaneous Writings” schreibt: „Der Mensch ist Gottes Bild und Gleichnis; alles, was Gott möglich ist, ist dem Menschen als Gottes Widerspiegelung möglich”. Dieses Verständnis vernichtet jeden Glauben an eine begrenzte Fähigkeit des Menschen. Was den Sterblichen begrenzt und unvollständig scheint, ist nur die Folge ihrer Unkenntnis der Art und des Wesens des Menschen, ihrer Unkenntnis dessen, was ihm als dem Sohn Gottes gehört. Wenn die Sterblichen dies begreifen und ihr göttliches Recht behaupten, werden Begrenzungen verschwinden und zwar genau im Verhältnis zu der Klarheit ihres Verständnisses.
Herrscht scheinbar Mangel an Versorgung? Fehlt es an den sogenannten Lebensnotwendigkeiten? Dann laßt uns die Lage wissenschaftlich prüfen und feststellen, was wirklich not tut! Können wir uns vorstellen, daß der unendliche Vater-Mutter-Gott, der dem Menschen die göttliche Fülle verliehen hat, etwas übersehen hat, oder daß Er Seine Segnungen vorenthält? Wäre ein solcher Vater unendlich gut? Ganz gewiß nicht! Worin liegt dann die Schwierigkeit? Nur darin, daß Mangel stets und ständig die Folge davon ist, daß man das Wesen und die Gegenwart Gottes und Seine Beziehung zu Seinem Sprößling nicht versteht. Es tut also mehr geistiges Verständnis, ein größeres Erfassen des wahren Standes des Menschen als Sohn Gottes not. Mrs. Eddy macht dies auf Seite 307 in „Miscellaneous Writings” auf bewunderungswürdige Art mit den Worten klar: „Gott gibt dir Seine geistigen Ideen, und diese wiederum geben dir, was du täglich brauchst”. Und sie fügt die freundliche Ermahnung und Versicherung hinzu: „Bitte nie für morgen: es genügt, daß die göttliche Liebe eine immergegenwärtige Hilfe ist, und wenn du wartest und nie zweifelst, wirst du jeden Augenblick alles haben, was du brauchst”. Was für ermutigende Worte von einer Frau, die ihre Wahrheit bei vielen Gelegenheiten, wo sie bitteren Mangel zu leiden schien, erprobt hatte! Auch Christus Jesus legte den Fall überaus genau dar. Er erklärte: „Und alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubet, werdet ihr's empfangen”.
Könnte man sich eine größere Gewißheit wünschen, als sie in diesen Erklärungen Christi Jesu und unserer Führerin zum Ausdruck kommt? Es erübrigt sich nur, sie in die Tat umzusetzen, d.h. wir müssen unsere Arbeit recht tun. Und diese Arbeit besteht in gerechtem Gebet, womit wir Gott nicht anflehen, uns etwas zu geben, das Er uns vorenthält, sondern vielmehr wissenschaftlich beanspruchen, was uns schon gehört: unbegrenzte Versorgung mit Gutem — mit Gutem, das alle unsere Bedürfnisse befriedigt. Überdies sind alle Eigenschaften Gottes, da Er unendlich und überall gegenwärtig ist, ebenfalls überall gegenwärtig. Es gibt keinen Ort, wo Gott und Seine unendliche Güte nicht gegenwärtig sind. Als Gottes Widerspiegelung drückt der Mensch hier und jetzt und überall alles aus, was Gott ist. Gottes Vollkommenheit bekundet sich in unserer menschlichen Erfahrung im Verhältnis zu unserem Verständnis dieser Tatsache. Welch wunderbare Aussichten sich dem bieten, der durch wissenschaftliches Forschen sein göttliches Erbe, das geistige Jetzt, das durch gerechtes Gebet immerdar zugänglich ist, verstehen lernt!
Welche Macht ist stark genug, das Böse zu überwinden? Nur der neue Geist, der christliche Geist, in den Herzen der Menschen.—
