Die Sterblichen stehen manchmal in außergewöhnlichem Maße im Banne überlieferter Annahmen. Man denke z. B. an die herrschende Annahme der verhältnismäßig kurzen Dauer des menschlichen Daseins auf Erden. Es wird allgemein geglaubt, daß wenige hundert Jahre alt werden, daß die Lebenszeit der meisten Leute nicht mehr als „siebzig Jahre” sei.
Was muß die Wirkung—erstens die mentale Wirkung und zweitens die körperliche Wirkung—auf diejenigen sein, die sich durch diese falsche Meinung des sterblichen Gemüts irreführen lassen? Wenn ihr nicht durch geistige Wahrheit entgegengewirkt wird, wird sich der einzelne unvermeidlich ihrer Forderung, daß er den herkömmlichen Weg der Menschheit gehen soll, fügen. Und sein Leib wird dieser mentalen Verfassung entsprechen. Kraft und Frische werden ihn verlassen; Schwäche wird über ihn kommen und dann—„der letzte Feind”. Es ist ein ergreifendes Bild, dieses Bild menschlicher Hinfälligkeit, das aber, wissenschaftlich gesprochen, vollständig falsch ist.
Aber trotz der Tatsache, daß die Sterblichen durch unzählige Geschlechter hindurch an eine begrenzte irdische Daseinsdauer geglaubt und daher geerntet haben, was sie in ihrem Bewußtsein beherbergten, hat die Mehrzahl dem, was als das Unvermeidliche angesehen wurde, immer energischen Widerstand geleistet. Sie haben die Ungerechtigkeit der Annahme gefühlt und haben sich dagegen aufgelehnt. Aber wie ihr entgegenzutreten, wie sie zu überwinden ist—das war immer die Frage! Die Alchimisten glaubten einst, das menschliche Dasein durch eine materielle Substanz unbestimmt verlängern zu können, und sie suchten emsig nach „dem Lebenstrank”. Aber ihr Forschen blieb erfolglos. Manchmal hören wir heutzutage von Theorien, die in uns den Glauben zu erwecken suchen, daß das Leben sehr verlängert werden könne, nachdem der materielle Körper genügend bearbeitet oder mit gewissen Chemikalien behandelt sei. Aber alle solche materiellen Theorien werden den Weg der Theorie vom „Lebenstrank” gehen—in Vergessenheit geraten.
Daß der Prophet Jesaja den wahren Weg zu Langlebigkeit verstand, geht aus seinen Worten hervor (Jes. 40, 31): „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden”. Beachtenswert sind die Worte: „Die auf den Herrn harren”; denn sie enthalten das Geheimnis. Was schließen sie in sich? Daß wir vor allem das Verständnis des Herrn, d. h. Gottes oder des wirklichen Seins erlangen und dann unser Verständnis gewissenhaft anwenden müssen.
Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, schreibt (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 128): „Eine Kenntnis von der Wissenschaft des Seins entwickelt die latenten Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen”. Diese Kenntnis kann erlangt werden durch Ergründen des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs, dem die soeben angeführte Stelle entnommen ist, in Verbindung mit der Bibel. Wird das Ergründen ehrlich durchgeführt, so wird es höchst wahrscheinlich das Denken des Schülers von Grund aus umwandeln. Es wird ihm zeigen, daß der Mensch—der wirkliche Mensch—nicht materiell sondern geistig ist. Es wird ihm die Wahrheit enthüllen, daß der Mensch als Gottes Widerspiegelung nur göttliche Eigenschaften oder Ideen wie Güte, Weisheit, Liebe und Leben ausdrückt, und zwar in unbegrenztem Maße. Es wird ihm klarmachen, daß der Glaube, daß der Mensch in einem materiellen Leib lebe, eine Trugvorstellung—eine Sage—ist, und daß er weniger an den sogenannten materiellen Leib denken und dadurch Herrschaft über ihn erlangen wird, menn er diese Wahrheiten erkennt. Das Ergebnis wird bessere Gesundheit und größere Langlebigkeit sein.
Was also den Menschen not tut, ist, über den wirklichen Menschen mehr und immer mehr zu erfahren, und mit der erlangten Erkenntnis die falschen Annahmen des materiellen Sinnes zu widerlegen und zu überwinden. Diese falschen Annahmen sind es, die uns zu dem Glauben zu verleiten suchen, daß Güte und Schönheit und Stärke begrenzt seien; sie suchen Beweisgründe gegen die Ewigkeit des Daseins des Menschen vorzubringen; sie suchen uns zu überzeugen, daß wir gerade dann, wenn wir uns einer gewissen Reife nähern, wenn wir durch Selbstzucht und Erfahrung den Punkt erreicht haben, wo wir von größtem Wert sein sollten—daß wir dann vermeintlich unsere Verheißung, unsere Frische, unsere Stärke verlieren und abzunehmen beginnen. Alle solche falschen materiellen Annahmen müssen durch die Wahrheit über den geistigen Menschen umgekehrt werden, wenn wir uns jene Lebenskraft bewahren wollen, die uns in Wirklichkeit immer gehört. Unsere Führerin schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 246): „Wäre es nicht wegen des Irrtums, der alles Gute und Schöne abmißt und begrenzt, der Mensch würde mehr als siebzig Jahre genießen und dabei seine Kraft, seine Frische und Verheißung bewahren”.
Was wird das volle Erwachen zu der Wahrheit des wirklichen Seins für die Menschheit bedeuten? Es wird das Überwinden des Glaubens, daß die Materie oder das Böse wirklich sei, den Sieg über den materiellen Sinn, die Herrschaft über alle mit der materiellen Daseinsauffassung verbundenen Schwierigkeiten bedeuten. Es wird mehr „Kraft, Frische und Verheißung”—die Vernichtung der Unwahrheit von den „siebzig Jahren” bedeuten. Folgende Stelle auf Seite 218 und 219 in Wissenschaft und Gesundheit beantwortet die Frage besser als wir es je könnten: „Wenn wir zu der Wahrheit des Seins erwachen, wird alle Krankheit, wird Schmerz, Schwäche, Müdigkeit, Leid, Sünde und Tod unbekannt sein, und der sterbliche Traum wird für alle Zeiten aufhören”.
