Die Christliche Wissenschaft wird auf menschliche Bedürfnisse durch das Verständnis und den Beweis der Regierung Gottes angewandt. Nicht durch akademische Mittel, nicht durch bloß verstandesmäßige Entwicklung, nicht auf menschliche Art wird die Christliche Wissenschaft bewiesen, sondern durch wachsendes Erkennen und Lieben des göttlichen Willens.
Zwei wichtige Erfordernisse für die Anwendung der Christlichen Wissenschaft sind Demut und geistige Ermächtigung. Mrs. Eddy schreibt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 224): „Ein höheres und praktischeres Christentum, das Gerechtigkeit demonstriert und die Bedürfnisse der Sterblichen in Krankheit und Gesundheit befriedigt, steht an der Pforte dieser Zeit und klopft, Einlaß begehrend, an. Willst du diesem Engel, der zu dir kommt, die Tür öffnen oder sie vor ihm verschließen, diesem Engel, der in der Stille der Sanftmut kommt, wie vor alters zu dem Patriarchen am Mittag?”
Der Anhänger der Christlichen Wissenschaft findet bald, daß er ohne Demut die göttliche Ermächtigung, die stets Einlaß begehrend an die Tür seines Herzens klopft, nicht begreifen kann. „In der Stille der Sanftmut” wird ihm die Gegenwart Gottes zur greifbaren Kraft. Für neue und höhere Entdeckungen der Güte Gottes muß es einen mentalen Wendepunkt, einen Ausgangspunkt, geben; und dies ist Demut, die Meinungsstolz aufgibt und so das Denken für die Wahrnehmung der Offenbarung öffnet, die die Christliche Wissenschaft der Welt gebracht hat. Für das fortdauernde Annehmen dieses Verständnisses der Wirklichkeit muß man dann die große Sanftmut des Herzens, wodurch der menschliche Wille und der persönliche Verstand gegenüber der Entdeckung der Tatsachen des göttlichen Gemüts zurücktreten, finden und darin wachsen.
So groß war die Demut des Petrus, daß er, wie wir im Evangelium des Lukas lesen, einmal zu Christus Jesus sagte: „Herr, gehe von mir hinaus! ich bin ein sündiger Mensch”. Die lebendige Überzeugung, daß Sünde Sünde ist, daß die Materialität nicht von Gott ist, muß wahrem Vertrautsein mit Gott unbedingt vorausgehen. Diese Überzeugung läßt das Böse nicht wirklicher oder als etwas Furchterregendes erscheinen, sondern sie bildet eine unüberbrückbare Kluft zwischen der göttlichen Schöpfung und ihrer Fälschung, der Materialität. Jesu Lehre zeigt klar, daß Gott den anmaßenden Pharisäer im persönlichen Denken nicht erhört, wenn er sich brüstet: „Ich bin nicht wie die andern Leute”, daß aber das aus tiefstem Herzen kommende Gebet des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig” durch die Fülle des göttlichen Trostes erhört werden kann. Wahre Demut ist daher eine tiefgehende christliche Notwendigkeit.
Echte Demut ist nicht Selbstherabsetzung; denn diese ist manchmal nur ein Umschlag der Selbstachtung. Demut ist die Bereitwilligkeit des Herzens, sterbliches selbstbewußtes Wesen verschwinden zu lassen. Sie beherbergt keinen geheimen Vorbehalt gegen Christusähnlichkeit. Sie befreit den, der sie hat, von dem Gefühl der Trennung von Gott; denn sie ist jene Tugend des Geistes, die alles aufgibt, was ein von Gott getrenntes Dasein bilden würde. Selbstlosigkeit ist Demut. Kein Schüler der Christlichen Wissenschaft behauptet, daß er das volle Maß dieser geistigen Tugend erreicht habe; aber jeder Schüler kommt einmal zu der Einsicht, daß er ohne sie noch nicht den ersten wirklichen Schritt im Beweisen der Christlichen Wissenschaft gemacht hat. Oft ist Demut eine Tür, die einer, der nach dem Reich Gottes trachtet, frühe öffnet, und sie ist die Tür, die er nie ohne Besorgnis schließen kann.
Die Vollständigkeit der Demut gehört unzertrennlich zu dem wirklichen geistigen Selbst des Menschen als der Idee des göttlichen Gemüts, da er der gehorsame Sprößling des göttlichen Gemüts ist. Für den wirklichen Menschen in Gottes Ebenbild gibt es kein sterbliches Selbst, kein getrenntes oder eigenwilliges Dasein. Er bewegt sich ungehindert im unendlichen Gemüt, das ihn ins Dasein ruft und umschließt. Das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft erklärt von „den unendlichen Ideen des Gemüts” (S. 514): „In Demut erklimmen sie die Höhen der Heiligkeit”. Demnach kann die menschliche Erfahrung nur durch die Tugend Demut, die der einzelne ausdrücken muß, die Höhe erreichen, wo sie die unendliche Stärke und Herrschaft, die das christliche Heilen kennzeichnen, als Macht wahrnehmen und darauf vertrauen kann.
Der Christliche Wissenschafter liest in seinem Lehrbuch auch (S. 270): „Sanftmut und Nächstenliebe haben göttliche Vollmacht”. Er lernt Tag für Tag, daß Sanftmut und Nächstenliebe ihn von den egoistischen Ansichten befreien, die ihm ihrer Natur nach die Beweise geistiger Kraft verbergen würden. Das religiöse Denken der Welt hat immer behauptet, daß Gott allerhaben ist; dennoch hat der gegenteilige Glaube, daß das Böse auch Macht sei, in diesem Glauben als offenkundiges Hindernis gewirkt und das berechtigte Wirken der göttlichen Kraft in den Schatten gestellt. Wenn der Schüler der Christlichen Wissenschaft durch diese Wissenschaft erkennen lernt, daß das Böse unwirklich ist, weil es Gott unbekannt ist — daß es eine Verneinung, nur die Annahme ist, daß das Gute abwesend sein könne — ist er bestrebt, immer zu wissen, daß das Böse unwirklich ist. In dem Maße, wie er in dieser geistigen Errungenschaft erfolgreich ist, wächst er im Verständnis der unwiderstehlichen göttlichen Vollmacht, die durch selbstloses Gebet wirkt. Glaubte er, diese Vollmacht wohne menschlich in ihm, so könnte er nur Mißerfolg haben. Beginnt er aber verstehen zu lernen, daß alle Vollmacht Gott gehört, daß es eine göttliche Vollmacht ist, die jedermann zu Gebote steht und von niemand für sich allein beansprucht werden kann, so ruht er in dieser göttlichen Kraft, vertraut darauf und sieht, wie sie als christliches Heilen wirkt.
So läßt christlich-wissenschaftliche Behandlung durch die beiden Erfordernisse Demut und Vollmacht göttliche Kraft auf die sterblichen Trugvorstellungen Sünde und Krankheit einwirken. Der Christliche Wissenschafter kann sich fragen, wieviel er Gott mit Vollmacht zu seinem Problem, seiner Ausübung oder seinem Fall, wie er es nennen mag, sprechen läßt. Seine Aufgabe ist, das Wort der Wahrheit zu äußern und dann der Vollmacht Gottes zu vertrauen, daß sie diese Äußerung in Kraft setzen wird. Wenn er die Christliche Wissenschaft anwendet, begegnet er vornehmlich seinem eigenen falschen Denken. Der Versuchung, dem Druck der Furcht, der Begrenzung, einem widrigen Augenschein der körperlichen Sinne hier ein wenig nachzugeben, dort ein wenig einzuräumen, weigert er sich standhaft.
In äußerlichen Unternehmungen erzwingt er nichts, was über die normalen Zustände des Fortschritts hinausgeht; aber inwendig, in seinem Denken, duldet er keine Begrenzung der Macht Gottes. Standhaft hegt er göttliche Ideen und macht seinen ganzen menschlichen Sinn ihrer ermächtigten heilenden Gegenwart untertan.
Die christlich-wissenschaftliche Behandlung hat daher nur den Zweck, jede Herausforderung mit der durch Sein Wort sprechenden Vollmacht Gottes zum Schweigen zu bringen. Diese Beweiskraft kann nur durch Einssein mit dem göttlichen Gemüt, durch verständnisvolles Gebet, verwirklicht werden. Die Vollmacht wird von Gott, der einzigen Quelle der Vollmacht, aufrechterhalten. Was das Christentum so gern den Fels der Zeiten nennt, die in Seinem Weltall ausgedrückte Allmacht Gottes, ist ewig, unbegrenzt, und immer wirksam. Denn Christus Jesus stillte den Sturm, heilte die Kranken, weckte die Toten auf; und dieselbe allgegenwärtige göttliche Vollmacht behauptet sich durch das erklärte Wort der Wahrheit in der christlich-wissenschaftlichen Behandlung. Das Gebet oder die Behandlung, die so mit der göttlichen Kraft in Verbindung steht, ist die Verkörperung der Vollmacht, ja ihre Stimme, ihre Gegenwart und Inkraftsetzung.
Das auf die göttliche Vollmacht vertrauende Denken kann auf keine Schwachheiten Rücksicht nehmen oder sich nach Krankheitsanzeichen richten. Beständiges geistiges Erklären, nachdrückliches Anwenden sollte die christlich-wissenschaftliche Behandlung immer kennzeichnen. Wenn das Denken von dem, was sich der göttlichen Kraft widersetzt, befreit ist, wird erkannt werden, daß sich das Gesetz Gottes immer selber in Kraft setzt. Und wenn gesehen wird, daß es in Kraft ist, tilgt es durch ermächtigte mentale Berichtigungen die Schwächen und Befürchtungen des einzelnen.
Aufrichtiges Vertrauen auf Gott verdient sein Recht auf Gottes Erhörung. Und um Standhaftigkeit muß man beten, arbeiten und, wenn es not tut, wie Jakob ringen, um einen Engel zu empfangen. Man muß wissen, daß Gottes Beständigkeit einen angesichts aller bösen Vorwände standhaft sein läßt. Wenn man so feststeht und sein Recht, Gottes Hilfe zu erfahren, nie aufgibt, erkennt man, daß der Fels der Zeiten nie wankt; daß die göttliche Allmacht in ihrer eigenen Allgegenwart unerschüttert feststeht; daß unsere eigene Sicherheit auf dieser allumfassenden Unendlichkeit des Guten ruht.
Die Äußerung der ewigen Wahrheit ist die Äußerung der tatsächlichen Gegenwart Gottes selber. Sie ist des ewigen Gottes eigene Erklärung Seiner und Seines Weltalls Vollkommenheit. Das göttliche Gemüt kennt seine eigene selbst in Kraft gesetzte, selbst erhaltene und ewig selbst fortgeführte Allgegenwart. Daher steht der Schüler der Christlichen Wissenschaft in dem Maße, wie er das göttliche Gemüt widerspiegelt und ausdrückt, in göttlich gestützter Vollmacht, die er erklären kann, und auf die er zur Aufhebung jeder falschen Annahme vertrauen kann.
Wie einfach doch diese beiden Erfordernisse, Demut und Vollmacht, sind! Vor alters sagte ein Prophet zu seinem Volk: „Es ist dir gesagt, ... was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott”. Die Christliche Wissenschaft stellt an jeden Anhänger dieselbe Forderung. Ist er demütig vor seinem Gott, so erreicht seine Demut Gott, wird von der Vollmacht des Guten berührt, verbindet sich mit der göttlichen Inkraftsetzung, wodurch Gott Seinen Menschen und Sein Weltall Seine eigene Harmonie widerspiegeln läßt. Wahre Demut vereinigt sich mit geistiger Erhöhung und ist dadurch gegen alles, was das falsche Selbst geltend zu machen sucht, göttlich bevollmächtigt.
Es ist schon gesagt worden, daß eine Verbindung von Mitgefühl und Demut einen vorzüglichen Charakter bilde, den alle, die ihn verstehen, lieben. Gerade danach strebt der Christliche Wissenschafter. Er sollte nicht bloß verstandesmäßig mit dem Buchstaben vertraut sein, sondern sollte ein Beispiel jener köstlichen Verbindung von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Demut sein, die allen, mit denen er verkehrt, das Leben weniger schwierig macht. Wenn er so verchristlicht ist, kann ihm niemand seine Freude rauben. Er weiß, daß sein eigenes Einssein mit dem göttlichen Gemüt sein ungestörter Himmel ist, und in der ungestörten Freudigkeit seines höchsten Verständnisses der göttlichen Liebe beherbergt er wahrlich den „Engel” des christlich-wissenschaftlichen Gemüts-Heilens.