„Jesus aber hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus”. Hier, im 11. Kapitel des vierten Evangeliums, gewährt uns der geliebte Jünger einen Blick in eine wunderbare Freundschaft im Leben seines Meisters und besiegelt dadurch einen Platz für wahre Freundschaft in menschlichen Beziehungen mit der Heiligkeit des Christus. Unter Freundschaft können wir das Empfinden zwischen Freunden verstehen, das sie vertrauensvoll mit dem selbstlosen Wunsche für ihr gegenseitiges Wohlergehen verbindet; das gegenseitige Freude im Teilen des Guten bereitet.
In „Rückblick und Einblick” (S. 80) schreibt Mrs. Eddy: „Die Erde kennt keine größeren Wunder als die Vollkommenheit und ungebrochene Freundschaft”. Warum scheint eine solche Freundschaft so schwer zu erlangen, daß unsere erleuchtete Führerin sie in die Wunder einreiht? Weil sich die materielle Annahme von Leben, Substanz und Intelligenz in der Materie der Entfaltung der geistigen Tatsachen der Vaterschaft Gottes und der Menschenbrüderschast — deren Verständnis Vertrauen und freundliche menschliche Beziehungen bewirkt — zu widersetzen scheint.
Unsere Führerin schreibt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 340): „Das erste Gebot ist mein Lieblingsspruch. Es demonstriert die Christliche Wissenschaft”. Und auf derselben Seite schließt sie das Kapitel „Die Wissenschaft des Seins” mit der wunderbaren Zusammenfassung: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Menschenbrüderschaft auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle:, Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden könnte”. Es ist also einleuchtend, daß niemand das Erste Gebot ganz erfüllt, wenn er nicht das weitere Gebot befolgt, seinen Nächsten zu lieben.
Grundlegende Einigkeit oder Freundlichkeit ist der Kernpunkt der Lehre Christi Jesu. Sie ist grundlegend für die Vollendung der Erlösung der Welt. Freundlichkeit und Güte werden nicht immer erwidert; sind aber ihre wesentlichen Eigenschaften nicht vorhanden, so kann es keine wahre und dauernde Freundschaft geben. Wahre Freundschaft in der menschlichen Erfahrung ist ein Segen, um den man beten und den man gegen jede Erscheinungsform des Irrtums verteidigen muß, der ihr entgegenzuwirken oder sie abzubrechen scheint.
Die Christliche Wissenschaft legt Nachdruck auf die Tatsache, daß das allgegenwärtige Gute in der Allheit und Einheit Gottes, des göttlichen Prinzips, zu finden ist. Dann muß die wahre Idee Freundschaft unbedingt eins sein mit dem göttlichen Prinzip, muß von Persönlichkeit unabhängig, vor schwankenden menschlichen Zuständen und wechselnden Stimmungen sicher und gegen Fehler, Mißverständnisse oder Widerwärtigkeiten gefeit sein.
Alle Eigenschaften, die man in einem Freunde sucht und ersehnt — Mitgefühl, Geduld, Erbarmen, Milde, Versöhnlichkeit, Treue, Vertrauen, feste und beständige Redlichkeit — spiegeln das göttliche Gemüt wider und sind daher wie die Liebe, ihr göttliches Prinzip, dauernd und unveränderlich. Und wenn sie so verstanden werden, zeigt es sich, daß die Eigenschaften, die uns die Freundschaft anziehend machen, durchaus nicht einzigartige persönliche Besitztümer sind; denn es gibt keine Einschränkung des Guten und kein Alleinrecht darauf. Wahre Freundschaft ist erkenntlich an den geistigen Eigenschaften, den Widerspiegelungen unseres gemeinsamen Vater-Mutter-Gottes, die wahre Eigenart ausdrücken und immer liebenswert sind. Keine dieser Eigenschaften sollte als einem Manne oder einer Frau eigentümlich angesehen werden; denn „männlich und weiblich erschuf er sie” (engl. Bibel). Die Blumen in unserem Garten teilen und vermengen ihre Schönheit und ihren Duft, jede in ihrer Art, mit allen anderen.
Das Wesentliche der göttlichen Eigenschaften ist, daß sie vereinigen, und die entgegengesetzten Unwahrheiten — Furcht, Selbstsucht, Mißtrauen, Groll, Eifersucht und andere Irrtümer, die durch ihr entgegengesetztes Wesen die Samen Mißton und Trennung zu verbreiten scheinen — müssen durch das Verständnis der Christlichen Wissenschaft umgekehrt und ihrer Scheinmacht entkleidet werden. Der Irrtum sucht das Entfalten der göttlichen Idee, die als die universale Menschenbrüderschaft und die Herrschaft der Harmonie auf Erden zum Ausdruck kommt, durch Trennung derer aufzuhalten, die sich zur Erreichung dieses Zwecks vereinigen.
Indem wir die natürlichen Eigenschaften der Freundschaft pflegen, können wir sie uns zu eigen machen und widerspiegeln. Dann kann weder körperliche Trennung, Zeit, Raum, noch ein vorübergehender Nebel des materiellen Sinnes die recht verstandene und auf Christus, die Wahrheit, gegründete Freundschaft trüben oder abbrechen. Noch kann einer, der Gott so versteht, der Freuden der Freundschaft je ermangeln. „Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch”. Es ist schon gesagt worden — und mit vollem Recht — daß „man nur dann einen Freund hat, wenn man ein Freund ist”.
Des Meisters Liebe war keineswegs auf die Geschwister in Bethanien und auf seine Jünger beschränkt. Durch seine große Liebe zur Menschheit heilte und speiste er das Volk. Ohne Furcht vor Kritik hatte er Erbarmen mit dem im Ehebruch ergriffenen Weib, machte er dem reumütigen Übeltäter Hoffnung und vergab der Sünderin, ohne sich durch Hohn und Spott stören zu lassen. Er war allen ein Freund und besonders denen, die der Freundschaft am meisten bedurften.
Ein weitherzigerer und großmütigerer Begriff von Freundschaft macht uneingeschränkte Freundlichkeit zur Gewohnheit. Er läßt uns über alle freundlicher denken, indem wir die Liebe ausdrücken, die „nicht das Ihre sucht”, die keinen Lohn erwartet, obgleich der Lohn, „ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß”, sicher nicht ausbleiben wird. Der wahre Sinn der Freundschaft sieht die Unwirklichkeit menschlicher Schwächen und hat Geduld mit den Fehlern anderer. Denn wer weiß, mit was für Schwierigkeiten ein anderer oft ohne seine Schuld, vielleicht infolge falscher Belehrung oder ungünstiger Umgebung, zu ringen gehabt haben mag?
In der heutigen unruhigen und furchterfüllten Welt kann man wahrlich sagen: „Eins aber ist not”. Des Meisters Beispiel der Liebe zur Menschheit sollte aufrichtiger und allgemeiner im Wohlwollen und in der Freundlichkeit seiner Nachfolger zum Ausdruck kommen. Bei jedem muß sie zuerst tief im Herzen geboren werden und dann in unseren Familien, unseren Kirchen, unseren Freundschaften, unserem Verkehr mit Fremden Ausdruck finden und sich erweitern, bis die Menschenbrüderschaft in internationalen Beziehungen aufgerichtet ist. „Ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig”.
„Gegenwärtig kommen die Sterblichen nur langsam vorwärts aus Furcht, für lächerlich zu gelten” (Wissenschast und Gesundheit, S. 68). Furcht vor Verhöhnung des Bemühens, Freundlichkeit gegen alle auszudrücken, gibt es nicht, wenn der Geist der Freundschaft, die von Gott ist, in den Herzen der Menschen unwillkürliche Erwiderung findet. Dann wird bewiesen werden, daß „die Hütte Gottes bei den Menschen” ist, daß der Krieg aufhören und die allumfassende Menschenbrüderschaft aufgerichtet werden wird.
