In einem der Gleichnisse Jesu ist erzählt, daß zwei Menschen nach dem Brauch jener Tage in den Tempel hinaufgingen zu beten. Der eine war ein Pharisäer. Dieser machte in seinem Gebet sehr viel Wesens von seinem eigenen persönlichen Wohlstand, indem er, wie erzählt, seine Wohltaten, seine hohe Achtung vor dem Kirchengesetz und seine Ehrfurcht vor der Kirche erwähnte. Es genügte ihm, daß er „nicht wie die anderen Leute” war. Der andere, ein Zöllner, gehörte einer allgemein verachteten Klasse an, war aber wahrhaft bußfertig und für geistige Führung empfänglich. So stellte der große Lehrer Christus Jesus durch sein Gleichnis das Gebet der Selbstgerechtigkeit dem Gebet der Demut gegenüber, um seinen Zuhörern die Wirksamkeit dieses und die Nichtigkeit jenes einzuprägen.
Ein in einem großen Geschäft angestellter Christlicher Wissenschafter kam mit anderen Angestellten, Vertretern verschiedener Völker und Glaubensbekenntnisse, in Berührung. Einen erhebenden Eindruck machte die Gleichförmigkeit ihrer Freundlichkeit und Zusammenarbeit. Statt Eifersucht, Neid und Wettstreit herrschte Einigkeit und gegenseitige Hilfsbereitschaft. Einige Jahre später bekleidete derselbe Wissenschafter eine andere Stellung; aber trotz ihrer wohlhabenden Umgebung trat dort die Einigkeit christlicher Gemeinschaft weniger in Erscheinung. Obgleich die Bedürftigen freigebig mit Geld versehen wurden, mangelte dem Geben sein wahrer Zweck. Statt der liebevollen Sorgfalt wie beim Scherflein der Witwe war es der pharisäische Sinn bloßer sittlicher Verbindlichkeit.
Diese Erfahrung lehrte, daß der Sinn der Brüderlichkeit ein wesentlicher Teil wahres Gebens ist. In seiner höchsten Bedeutung kommt wahres Geben von Herzen. Es ist geistig, unbeeinflußt von materiellen Begleitumständen, und Liebe und Dankbarkeit sind seine Beweggründe. Weit wertvoller als Silber und Gold ist der Gedanke, der solchem Geben zugrunde liegt. „Wie soll ich dem Herrn vergelten alle seine Wohltat, die er an mir tut?” fragt der Psalmist.
Wahre gegenseitige Liebe ist vollkommene Darbringung und die höchste Gabe, die wir Gott darbringen können. Vollkommene Liebe zum Menschen in Gottes Gleichnis läßt vollkommene Liebe zu Gott erkennen. Umgekehrt schließt vollkommene Liebe zu Gott vollkommene Liebe zum Menschen in Seinem Gleichnis in sich. Eine geistige Idee lieben, heißt das Prinzip oder das Gemüt lieben, das die Idee ausdrückt. Gott lieben, heißt daher Seine Kinder in einem allumfassenden Brüderschaftsband sehen, das die göttliche Art ausdrückt. Wahre Liebe schließt das Aufgeben aller materiellen Annahmen in sich und ist die dankbare Anerkennung des Geistes und der geistigen Schöpfung.
„Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe”. Diese Worte unseres Meisters, die er kurz vor seinem Verrat und im Geiste tiefer Demut äußerte, verkündigten seinen Nachfolgern jenes höhere Verständnis der Allgegenwart der Liebe, das sie unbedingt, vielleicht nach seinem Abscheiden unpersönlicher, gewinnen lernen mußten. Nachdem er den Jüngern die Füße gewaschen hatte, sagte er: „So nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen”. Es ist, als ob er gesagt hätte: Wenn ich als der Beispielgeber euch gleichwertig als meine Brüder in Christo sehe, sollt ihr auch einander so sehen.
Jahrhunderte später wurde die geistige Bedeutung dieses neuen Gebots—des Gebots der Liebe—wiederentdeckt und in Einfachheit und Demut einer umnachteten und wartenden Welt wieder verkündigt. Mary Baker Eddy, durch deren reines Bewußtsein die Welt diese Entdeckung empfing, bewies, daß die Liebe, verstanden und gelebt, Krankheit und Sünde heilt und dartut, daß das Reich Gottes in der Tat im geistigen Bewußtsein ist. Ihrer Entdeckung der Allmacht, der Allgegenwart und der Allwissenheit der Liebe gab sie den Namen Christliche Wissenschaft. Es war daher nur natürlich, daß sie uns als Christliche Wissenschafter in einem der Glaubenssätze (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 497) dringend aufforderte, „andern zu tun, was wir wollen, daß sie uns tun sollen, und barmherzig, gerecht und rein zu sein”.
Neid, Haß, Habgier trüben die Einigkeit unter Brüdern; sie stürzen das Denken in hoffnungslose Verwirrung. Man wird jedoch verstehen, daß die Menschenbrüderschaft, die als christliches Ideal über aller sterblichen Zwietracht steht, unverletzlich ist. Sie ist ein geistiges Band, das von aller Ewigkeit her besteht und alle Menschen im Evangelium der Liebe hält. Das edelste Streben, das erhabenste Bemühen der Menschheit findet in christlicher Gemeinschaft Ausdruck. Es befreit von der Knechtschaft der Unwissenheit und erhebt das Denken zu besseren Lebensweisen und einem geistigeren Sinn der Freiheit des Menschengeschlechts. In einer Welt der Umwälzung ist es weise, unbeirrt der Tatsachen des Daseins im Gegensatz zu den Unwahrheiten und den Trugvorstellungen des materiellen Sinnes eingedenk zu bleiben. Gott weiß nichts von Materie und Sterblichkeit, von Glaubensbekenntnissen, von Kirchenlehre und Nationalitäten. Der Vater geistiger Ideen ist nicht der Urheber der Träume, sondern der ewig lebendigen, göttlichen Wirklichkeit, und Er regiert Seine Schöpfung liebevoll durch das unveränderliche geistige Gesetz.
Wovon wir erlöst werden müssen, ist der Glaube an das fleischliche Gemüt, die Lüge von Leben und Intelligenz in der Materie. In der Bibel lesen wir, daß unser Meister bald nach Beginn seines erhabenen Wirkens auf Erden seine Jünger aussandte, die Leidenden und die Sünder zu heilen und zu erretten. Die Christliche Wissenschaft hat das Heilverfahren Jesu erklärt, indem sie zeigt, daß die Liebe in jedem Falle der Heiler war. Wenn das Denken gereinigt und unser Sinn der Liebe so erweitert ist, daß er die ganze Menschheit umfaßt, entfaltet sich in der Erfahrung des einzelnen die Fähigkeit zu heilen, wie unser lieber Meister heilte. Dann ist auch die Wahrheit bewiesen, die, wie er sagte, freimachen wird.
Ein Ausüber wurde einmal gefragt, was wahres und aufrichtiges Gebet sei. Er antwortete, daß jeder gute Gedanke, jeder Gedanke, dessen Beweggrund rein und selbstlos ist, Gebet ist. „Unausgesprochene Gedanken sind dem göttlichen Gemüt nicht unbekannt. Verlangen ist Gebet” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 1). Da Gott das Gemüt ist, können wahre Gedanken dem allwissenden Gemüt nicht verborgen sein. Unseren Brüdern mit Liebestaten dienen, heißt Gott dienen. Christus Jesus zeigte, daß es unmöglich ist, wahrhaft zu beten, ohne unsere Brüder in unser Gebet einzuschließen. Wie oft halten wir inne, um daran zu denken, daß das Gebet des Herrn in allen jenen erhaben einfachen Wörtern in der Mehrzahl ist? „Unser Vater” war für Jesus „mein Vater und euer Vater”. Die geistige Auslegung dieses Gebets im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch enthüllt Gott als den Vater-Mutter aller und offenbart so die allumfassende Menschenbrüderschaft.
Werden unsere Dienste und Opfer für andere nicht geschätzt? Scheint es manchmal, daß das Beste, das wir geben können, mit Undank belohnt wird? Dann sollten wir, anstatt den Lohn vom persönlichen Sinn zu erwarten, vielleicht lieber daran denken, daß der in dem Lob: „Gut getan, du frommer und getreuer Knecht” ausgesprochene Lohn von dem Vater kommt, der „die Person nicht ansieht”. Dann können wir auch daran denken, daß „menschliche Herzenswärme”, wie unsere Führerin schreibt, „nicht vergebens ausgeströmt wird, selbst wenn sie keine Erwiderung findet”, und daß „die Liebe die menschliche Natur bereichert, erweitert, reinigt und erhebt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 57). Durch ihre reiche Erfahrung war Mrs. Eddy geistig befähigt, diese Worte uns zum Trost zu schreiben. Oft kommt es vor, daß das einem andern erwiesene Gute von ganz unerwarteter Seite zurückkommt. Was aber auch immer das Ergebnis sei, gute Gedanken und gute Taten gehen nie verloren. Sie entspringen dem Gemüt, werden vom geistigen Gesetz erhalten, sind ewig ein Teil des geistigen Weltalls, der Substanz des Guten, und belohnen sich selber.
Wahre Brüderschaft, wie unser Meister sie dargelegt hat und wie die Nachfolger Christi sie beweisen, erhöht nicht den einen oder andern, sondern ist demütiges und geduldiges Zusammengehen aller. Innige Gemeinschaft mit Gott trennt uns nicht von unseren Mitmenschen, sondern bringt uns ihnen näher. Zusammenarbeit, sei es zu Hause oder außerhalb oder in unseren Zweigkirchenorganisationen, ist größtenteils auf geistiges Verständnis gegründet. Denn je höher sich der Gedanke im Verständnis Gottes und des Menschen erhebt, desto weiter entfernt er sich von der Materialität. Im Reiche Gottes, des ewigen Gemüts, wo der Mensch lebt, webt und ist, gibt es keinen Streit um Rechte oder Ziele. Daher wird die wahre Grundlage der Zusammenarbeit gefunden, wenn sich das Denken diesem idealen Zustande nähert.
Vielleicht ist es nötig, daß Tadelsucht und Meinungsstolz der Demut und erbarmungsvoller Liebe Raum geben. Der Geist des Teilens, nicht des Alleinbesitzens, ist die Losung treuer Christlicher Wissenschafter. Das Üben der christlichen Eigenschaften, wie es uns auf dem Berge gezeigt ist, wird unsere Brüder in ihrem wahren Lichte—ihrer geistigen Wesenseinheit—enthüllen, so daß sie für uns „nicht mehr Gäste und Fremdlinge sind, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen”.
