Jeder Christliche Wissenschafter ist ein Ausüber, wenn er überhaupt ein Christlicher Wissenschafter ist; denn das Wort „Ausüber” bedeutet vornehmlich jemand, der ausübt oder anwendet, was er weiß. Können wir aber nur dem Namen nach Christliche Wissenschafter sein? Was würde man von Behauptungen wie den folgenden halten: „Ich bin Künstler; aber ich male nie ein Bild”. „Ich bin Musiker; aber ich musiziere nicht”. „Ich bin ein Brückenbauer; aber ich kann keine Brücke bauen”. „Ich bin ein Christlicher Wissenschafter; aber ich kann die Christliche Wissenschaft nicht dartun”?
Unsere verehrte Führerin Mary Baker Eddy hat geschrieben (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 37): „Es ist möglich, ja es ist die Pflicht und das Vorrecht jedes Kindes, Mannes und Weibes, dem Beispiel des Meisters durch den Beweis der Wahrheit und des Lebens, der Gesundheit und der Heiligkeit einigermaßen zu folgen”. Tun wir dies wirklich auch nur „einigermaßen”? Die Welt läßt sich nicht einfach dadurch überzeugen, daß man an die Christliche Wissenschaft glaubt; daß man sagt, sie sei etwas Gutes; daß man gern darüber redet und sie anderen empfiehlt. Die Welt verlangt Beweis, denselben Beweis, wie er vor Jahrhunderten gefordert und gegeben wurde, als Johannes der Täufer Boten zu Jesus sandte und fragen ließ: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?” Jesus sagte nicht: „Ich glaube, daß ich es bin”. Er wies auf seine Heilungswerke hin als Beweis, daß er in der Tat der lang erwartete Messias war. Glauben ist schon recht, soweit es geht; aber es geht nicht weit genug. Es ist nur der Anfang in der rechten Richtung. Ob man aber von diesem Punkte aus weitergeht, zurückkehrt oder an ihm stehen bleibt, hängt davon ab, wieviel man versteht und beweist.
Natürlich kann es vorkommen, daß der Christliche Wissenschafter dann und wann an eine ungewöhnlich schwierige Stelle auf dem Wege kommt, wo eine freundliche Hand not tut, ihm darüber hinwegzuhelfen. Aber jedermann sollte immer klarer sehen, daß er die Worte des geliebten Jüngers Johannes: „Wir sind nun Gottes Kinder” selber beweisen kann. Daher sollte man nie glauben, daß ein vorübergehendes Ereignis die Kraft habe, die Harmonie des Seins zu stören. Das göttliche Gemüt teilt die Reihen der Christlichen Wissenschafter nicht in Ausüber und Nichtausüber ein. Nur das menschliche Gemüt versucht alles nach seinem Gesichtspunkte einzuteilen.
Es ist wahr, daß nicht alle Christlichen Wissenschafter der Welt als eingetragene Ausüber bekannt sind und in der Ausüberliste im Christian Science Journal stehen. Es können treffliche und angebrachte Gründe vorliegen und liegen oft vor, warum dies manchen Wissenschaftern in der jetzigen Zeit unmöglich oder ungelegen ist. Es ist etwas, was jeder selber beweisen muß. Aber es ist ebenso wahr, daß man nicht ein Sprechzimmer mit seinem Namen an der Tür braucht, um zu heilen. Jedermann kann das, was er weiß, gerade dort, wo er ist—zu Hause, in der Fabrik, in der Werkstatt, in der Schule, im Geschäft, im Zug, auf der Straße, allein an entlegenen Plätzen im Gebirge oder in der brausenden Unruhe der größten Stadt der Erde—in die Tat umsetzen, so gut er kann. Wenn man recht denkt, kann man die Christliche Wissenschaft überall, wo man sein mag, anwenden.
Daher braucht niemand die Qualen der Selbstverdammung zu leiden, weil er noch nicht ein eingetragener Ausüber ist. Er mag in seiner ruhigen Art und Weise ebensoviel beweisen wie andere, die hervorragendere Stellungen einnehmen, und deren gute Werke leichter erkennbar sind. Manche unserer größten Siege werden ganz ungesehen und anderen unbekannt gewonnen, wenn wir mit Gott allein sind und niemand etwas von dem weiß, was vorgeht. Es gibt jedoch in vielen Gemeinden Leute, die schon einen passenden Ort eingerichtet haben, wohin sich die müde Menschheit wenden kann, um die Hilfe zu finden, die unsere Religion bietet, und niemand sollte je zögern, diesen Schritt vorwärts zu tun, aus Furcht, daß keine Hilfesucher kommen könnten. „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde”, sagte der Meister, „so will ich sie alle zu mir ziehen”. Wenn der Ausüber wirklich den Christus in seinem Bewußtsein erhöht, seinen Begriff vom Menschen über alle materiellen Annahmen, Lehren und Vermutungen in das geistige Reich des Wirklichen erhöht, wo der Mensch ewig eins mit dem Vater weilt, wird es ihm nie an Gelegenheit fehlen, seinem Bruder zu helfen. Wie die Sonne die Blumen öffnet, wie der Regen die Erde erfrischt, so zieht reine, unparteiische, allumfassende Liebe, die als die Widerspiegelung der Liebe unmittelbar von dem Herzen der Liebe kommt, alle, die in den Umkreis ihrer Gegenwart kommen, unwiderstehlich an.
Das Sprechzimmer eines Ausübers sollte ein heiliger Ort sein. Es sollte ein passender, ansprechender Ort sein, der ruhig, würdevoll, wohlgeordnet, schlicht, in jeder Einzelheit einfach ist, ein Ort, der der Ruhe und dem Frieden förderlich ist. Der Besucher sollte das Gefühl haben, daß er sein Herz ausschütten kann und sich nicht zu schämen braucht; daß er bei jemand ist, der ihn versteht. Er sollte wissen, daß er, wenn er will, das tiefste Geheimnis seines Lebens enthüllen kann, ohne befürchten zu müssen, daß sein Vertrauen schlecht angebracht ist. Unter solchen Umständen wird er finden, daß an diesem Ort keine Gelegenheit zu müßigem Reden oder Geschwätz ist. „Unser Wandel aber ist im Himmel”, scheint die unausgesprochene Losung zu sein. Und er wird sich zuletzt, wenn er sich verabschiedet, seelisch und leiblich erfrischt fühlen.
Wer die Christliche Wissenschaft öffentlich ausübt, sollte von großer Liebe zur Menschheit durchdrungen sein, sollte sehr viel klaren gesunden Menschenverstand walten lassen und grenzenlose Geduld haben; denn es werden viele und mancherlei unerwartete Forderungen an ihn gestellt werden. Aber in jeder noch so schwierigen Lage wird er immer die Oberhand behalten, wenn er standhaft an der inspirierten Erklärung in seinem Lehrbuch festhält (Wissenschaft und Gesundheit, S. 200): „Die Christliche Wissenschaft sagt: Ich bin entschlossen, nichts zu wissen unter euch als Jesum Christum, den Verklärten”. Wenn dies in jedem Falle geschähe, wie würden dann alle Schwierigkeiten und Mißverständnisse, alle Herzensqualen, Befürchtungen und Entfremdungen verschwinden, gleichviel, was für ein betrübendes Bild das sterbliche Gemüt auch darzubieten versuchen könnte!
Der hingebende Ausüber betet täglich um Weisheit, dem suchenden Denken gerade dort entgegenzukommen, wo es ist; es nicht zu entmutigen oder zu verwirren. Er betet, sanfter, versöhnlicher, duldsamer gegen die Fehler und Torheiten und Schwächen anderer, barmherziger, gerechter zu sein. Er wird an seinen Patienten keine Forderungen stellen, die über dessen gegenwärtiges Verständnis weit hinausgehen, noch sich gestatten, zu „schelten”, wie es manchmal genannt wird. Er wird nie seine Ruhe und Gelassenheit verlieren, wohl wissend, daß die Wahrheit nicht mit lärmender Beredsamkeit in das menschliche Herz hineingedrängt zu werden braucht. Würde das nicht vorauszusetzen scheinen, daß die Wahrheit unfähig sei, selber ihren Weg ohne Hilfe zu finden? Man kann die standhafte Ruhe bewahren, welche die Waffe ist, die der Irrtum fürchtet, und zu gleicher Zeit nicht ein Jota der Stärke und der Kraft verlieren, die immer eine wohl erwogene Behandlung begleiten.
Hier mag jemand denken: In meiner täglichen Beschäftigung sehe ich viele leidtragende und betrübte Leute, die die Christliche Wissenschaft brauchen, sich aber noch in keiner Weise bemüht haben zu empfangen, was ich ihnen so gerne geben möchte. Was kann ich in solchen Fällen tun? Wie kann ich die Christliche Wissenschaft ausüben, wenn sie niemand haben will? Mrs. Eddy hat die Antwort auf Seite 9 ihres Buchs „Anfangsgründe der göttlichen Wissenschaft” gegeben: „Die geistige Kraft eines wissenschaftlichen, rechten Gedankens hat oft ohne unmittelbare Anstrengung, ohne gesprochene oder auch nur gedachte Beweisführung eingewurzelte Krankheiten geheilt”. Wenn die Christlichen Wissenschafter im geistigen Verständnis fortschreiten, wird diese Art Heilung immer mehr vollbracht werden—keine beweisführende, in die Länge gezogene Behandlung, sondern die natürliche und unvermeidliche Wirkung eines Bewußtseins, das so eins mit Gott ist, daß Böses jeder Art in seiner Gegenwart nicht bleiben kann.
Ein einsamer Mann saß einst am Strande der felsigen Insel, die seine Heimat war, und blickte jahraus, jahrein über die den Strand bespülenden Wellen des blauen Ägäischen Meeres hinaus. Es war ein verlassener, rauher und felsiger Ort. Aber was um Johannes her war, bedeutete ihm nichts. War er nicht oft dem Meister zu Füßen gesessen? Nicht weit von ihm waren die sieben Kirchen Asiens, ringend, die Lehren des Christus weiterzuführen, obgleich sie wie die Kirchen von heute von innen und außen von den Bedrängnissen des Bösen bestürmt wurden, das sie von ihrem Zweck der Aufrichtung des Himmelreichs auf Erden abzubringen trachtete. Dort saß er allein, ein Gefangener, verbannt, vergessen, vermutlich am Ende seiner Nützlichkeit. Dennoch gingen von dieser felsigen Insel solch heilende Botschaften aus, daß sie sogar nach zweitausend Jahren immer noch von dem unsterblichen Licht himmlischer Erleuchtung erstrahlen und heute von den Christen in der ganzen Welt gelesen werden. Selbst auf einer verlassenen Insel kann das Herz, das zu segnen sucht, seines Ausdrucks nicht beraubt werden.
Jesus ging einmal in die Wüste hinaus, vielleicht weil er in dem Augenblick allein sein wollte. Warum sollte er sonst dorthin gegangen sein? Aber es war unmöglich. Die Leute ließen ihn nicht allein; sie folgten ihm nach, fünftausend Mann, „ohne Weiber und Kinder”. Es mag wohl eine seltsame und gemischte Gesellschaft geschienen haben; aber Jesus hatte erhabene Geduld. Er befriedigte ihre Bedürfnisse nicht nur geistig sondern auch materiell. Möge es sich auch von uns, seinen geringeren Jüngern, als wahr erweisen, daß unsere Sorgfalt und unser Erbarmen ebenfalls groß genug sind, die ganze Menschheit, selbst die scheinbar Lieblosesten und der Liebe Unwertesten, in sich zu schließen! Ja, wir müssen sie in noch völligerer Liebe und größerem Verständnis allen solchen Menschen zuteil werden lassen, weil ihr Bedürfnis so groß ist. Laßt uns frohlocken, weil wir so viele Gelegenheiten haben, diesen zahllosen Hungrigen behilflich zu sein!
Es gibt für jeden Christlichen Wissenschafter viel zu tun, wenn er Augen hat zu sehen und Ohren zu hören. Es gibt einen Hunger, der nicht mit Brot gestillt wird. Wir haben heute tapfere, stille, ergebene Menschen unter uns, die nach Liebe, nach ein wenig Freundlichkeit, nach einem Wort der Ermutigung hungern; die verstanden, auch nur in geringem Maße anerkannt sein möchten; die sich nach einem freundlichen Händedruck sehnen! Sollten wir, wenn wir solcher Leute gedenken, nicht um jene seltene Gabe, ein verständiges Herz, bitten, damit wir das Bedürfnis der müden Wanderer, der Einsamen, derer, die Heimweh haben, der Tiefbekümmerten, der Widerspenstigen, der Verzweifelten sehen und ihnen sagen können, daß alles, was scheinbar geschehen mag, nicht wahr ist, wenn es Gott unähnlich ist?
Zu manchen mag die Einflüsterung kommen, daß sie nicht Zeit für das alles haben, daß sie andere Arbeit zu tun haben. Jedoch unsere wirkliche Arbeit ist, Gott widerzuspiegeln. Wer jeden Morgen sein Tagewerk mit dem tiefen, aufrichtigen Wunsche im Herzen beginnt, nur so zu sehen, wie Gott sieht, und nur zu wissen, was Gott weiß, wird finden, daß jedermann, mit dem er in Berührung kommt, gesünder, froher und heiliger sein wird, weil er ihm begegnet ist. Und er wird, wenn er am Abend zur Ruhe geht, sich freuen, daß er einigermaßen bewiesen hat, daß er die Christliche Wissenschaft ausübt.
 
    
