Ein kleines Mädchen war soeben von der christlich-wissenschaftlichen Sonntagsschule nach Hause gekommen. „O Mutter”, rief sie freudig, „wir hatten heute morgen die ‚Selig sind‘”! Wer das für unsere Sonntagsschulen vorgeschriebene Unterrichten aus der Bibel kennt, weiß natürlich, daß das Kind damit die Seligpreisungen in Jesu Bergpredigt meinte. In der Tat lernen junge Kinder und Kinder, die nicht mehr jung sind, schnell sowohl Seligpreisungen als auch Segnungen kennen, wenn sie ihre ersten Schritte in der Christlichen Wissenschaft tun. Sie entdecken, daß sie als Kinder Gottes entschieden im Geschäft des Segnens sind. Die mit „segnen” und „Segnungen” übersetzten Wörter haben sowohl im hebräischen als auch im griechischen Urtext der Bibel die passenden Nebenbedeutungen: glücklich, glückselig, dankbar. So finden wir nach dem Evangelium des Matthäus, daß Christus Jesus seine Nachfolger lehrte, daß die Sanftmütigen, die reines Herzens sind, die geistig Hungrigen, die Friedfertigen — mit andern Worten, diejenigen, die nach einem vergeistigten Bewußtsein trachten — die wahrhaft Glückseligen, die Gesegneten, die Glücklichen sind.
Wenn man das liebliche Wort „segnen” angemessen schätzen und würdigen will, sollte man zuerst den traurigen Inbegriff seines Gegenteils, „fluchen”, betrachten. Was für häßliche Bilder doch dieser undenkbare Ausdruck, der Verwünschung, Abscheu und alles Mörderische und Haßerfüllte in sich schließt, heraufbeschwört!
Das 23. Kapitel des 4. Buchs Mose enthält einen kurzen aber anspornenden Bericht über den ersten Mann in der Bibel, der ausdrücklich verkündigt, daß er im Geschäft des Segnens ist. Balak, der Moabiter König, läßt den Propheten Bileam holen und gebietet ihm: „Verfluche ... Jakob” und „schilt Israel”; aber der Seher fragt: „Wie soll ich fluchen, dem Gott nicht flucht? Wie soll ich schelten, den der Herr nicht schilt?” Und dann lesen wir, daß der König zu Bileam sagt: „Was tust du an mir? Ich habe dich holen lassen, zu fluchen meinen Feinden; und siehe, du segnest”. Der Prophet faßt seinen Lebenszweck schließlich zusammen in den Worten: „Siehe, zu segnen bin ich hergebracht; er segnet, und ich kann’s nicht wenden”. Und dann folgt die bestimmte Wahrheitserklärung, die jedes mesmerische Teufelswerk des fleischlichen Gemüts vernichtet: „Wahrlich, es gibt keine Zauberei gegen Jakob, und keine Wahrsagung gegen Israel” [engl. Bibel]. Kann es uns nach dieser Enthüllung göttlicher Tatsachen wundern, zu finden, daß der geistiggesinnte Bileam als einer der ersten Propheten das Kommen des Messias voraussah?
Jahrhunderte später zeigt der sanftmütige Nazarener in seiner großen segnenden Predigt für alle Zunkunft, wie auf christliche Art mit mentaler Malpraxis und allen, die sie treiben, zu verfahren ist. Er kehrt die starre Vorschrift des rabbinischen Gesetzes um und sagt (Matthäus 5, 44): „Ich sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen”. Hat diese Lehre unseres großen Wegweisers einen Beigeschmack von Beschwichtigung, von Beschönigung des Irrtums, statt ihm offen entgegenzutreten und ihn zu handhaben? Durchaus nicht! Sie ist nur ein weiteres Beispiel des christlichen Grundsatzes des Meisters, die Sünde zu verdammen, aber den Sünder zu retten.
In ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901 (S. 12, 13) hat unsere liebevolle Führerin Mary Baker Eddy geschrieben: „Das Böse ist weder Qualität noch Quantität: es ist nicht Intelligenz, es ist keine Person und kein Prinzip, kein Mann und keine Frau, kein Ort und kein Ding, und Gott hat es nicht gemacht”. Ein wenig weiter unten fügt sie dann hinzu (S. 14): „Um alles Unrecht zu überwinden, muß es für uns unwirklich werden, und es ist gut, zu wissen, daß Unrecht keine göttliche Ermächtigung hat; daher ist der Mensch Herr darüber”.
Nehmen wir nun an, ein Christlicher Wissenschafter entdecke einen unerfreulichen Zustand in seinen Beziehungen zu einigen Gefährten. Gesetzt den Fall, er finde, daß andere unverkennbar Haßgedanken gegen ihn hegen. Was ist seine erste Sorge? Nur sich selber gegen die angreifende Einflüsterung zu schützen, oder diejenigen, die ihm fluchen oder ihn verfolgen, zu lieben und für sie zu beten? Bedarf der Hasser nicht mehr der Hilfe als der Gegenstand seines Hasses? Eine von Websters Begriffsbestimmungen des Wortes „segnen” ist bewahren, behüten und schützen. Wenn man daher Schmähung oder Verfolgung leidet, lautet des Meisters Gebot, den sogenannten Feind zu bewahren, zu behüten und zu schützen — mit andern Worten, zu segnen. Wie kann man dies tun? Dadurch, daß man die Geltendmachung von Malpraxis und einem Malpraxis Treibenden vernichtet; daß man das Böse weder als Person, Ort noch Ding ansieht, weil Gott, die Liebe, das Gute, das All ist.
Ist dies nicht christliche Liebe? Können „die Pforten der Hölle” sie überwältigen? Mrs. Eddy schreibt in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 210): „Gute Gedanken sind ein undurchdringlicher Panzer; seid ihr damit angetan, so seid ihr vor den Irrtumsangriffen jeder Art vollständig geschützt. Und nicht nur ihr selber seid sicher, sondern auch alle, auf denen eure Gedanken ruhen, gewinnen dadurch”. Man kann den Irrtum nicht auf seiner eigenen Tätigkeitsebene erfolgreich bekämpfen. Was wäre David zugestoßen, wenn er versucht hätte, Sauls Rüstung anzulegen und sich auf einen Zweikampf mit Goliath einzulassen? Der Riese hätte den Jüngling mit einem Stoß seines mächtigen Spießes besiegt. Davids Angriffsweise gibt den geistigen Kämpfern unserer Zeit einen nützlichen Hinweis. Wenn wir für einen sogenannten Feind beten, wenn wir den Irrtum unpersönlich machen, gebrauchen wir eine Waffe, die das sterbliche Gemüt nicht verstehen kann. Heute wie gestern stürzen die Goliathe, die Fluch und Haß ausstoßen, vor Segen, Liebe und Gebet machtlos zu Boden.
Wenn Christen und Christinnen zur Erkenntnis der Freude erwachen, in diesem heiligen Geschäft des Segnens zu sein, werden sie die erhabene Verheißung im letzten Kapitel der Offenbarung erfüllt sehen: „Und es wird kein Fluch mehr sein” [engl. Bibel].